Die Currywurstbude von Frank Spieß steht mitten auf einer Berliner Verkehrsinsel. Doch täglich bilden sich lange Schlangen, es spielen sich kleine Dramen ab. Er hat gleich zehn scharfe Chilisaucen im Angebot. Hunger, Mut, Schmerz, Genuss, Glück – wie ein kleiner Bissen die ganz großen Gefühle auslöst.
Es ist Tag eins nach Knut, dem weltbekannten Eisbären. Eine ältere Dame tritt an einen der Stehtische vor dem Imbiss. „Habt ihr schon gehört? Knut ist nicht mehr.“ Ein Mann mit langen Haaren und grauem Bart sagt: „Vielleicht war er einsam.“ Den Blick lässt er nicht von seiner Currywurst im rot verschmierten Pappschälchen mit dem gewellten Rand. Die Dame zuckt mit den Achseln. Der Mann nimmt einen Bissen seiner Wurst. Dann beginnt er zu weinen.
Es ist der Augenblick, als dem Mann klar wird, dass er einen Fehler gemacht hat. Denn nun kommt der Schmerz. Ihm schießen die Tränen in die Augen, die Nase beginnt zu laufen. Er hätte seine Wurst nicht ganz so scharf wählen sollen – das weiß er jetzt. Denn jetzt beißt die Chilisauce zurück. Seine Zunge und der Gaumen stehen bereits in Flammen. Der Chili rächt sich jetzt und brennt ihm Löcher in den Mund. Er frisst sich weiter in den Rachen hinein und hinauf in die Nebenhöhlen. Nun geraten auch seine Lippen in Brand. Der Mann schnauft, schnappt nach Luft. Dann bekommt er Schluckauf. Die Wucht der scharfen Sauce kann er nun bis tief hinab in den Magen spüren.
„Bei mir dürfen Männer weinen“, ruft Frank Spieß durch das kleine Fenster seiner Currywurstbude. Er weiß, wie sein Kunde sich gerade fühlt. Spieß isst selber gerne scharf. Konzentriert wie ein Chemielaborant träufelt er Chilisaucen tropfenweise über Würste und Pommes. Zehn Schärfen bietet er an. Manche davon gibt er an Kunden unter 18 gar nicht raus. Für nicht abgehärtete Gaumen sind diese Extrakte ungenießbar. Jeder Bissen ist ein kleiner Tod. „Ab Stufe fünf tut es weh“, sagt er, „für einige wird es zur Mutprobe.“ Die meisten wählen die Nummer zwei, eine leicht prickelnde, fruchtige Variante, die nach Zimt und Zitrone schmeckt. Die Fläschchen, die er bei einem Händler im Internet bestellt, tragen nicht ohne Grund Namen wie „Pain is good“, „Ground Zero“ oder „Holy Shit“. Wer dennoch alle Stufen schafft, wird Mitglied im „Schärfsten Klub der Welt“. Mit Klubkarte. Frank Spieß, geboren 1965, sagt: „Imbissbuden gibt es viele in Berlin. Die Schärfe macht den Unterschied.“
Regelmäßig bilden sich Schlangen von Scharfessern vor seiner Bude, die mitten auf einer Verkehrsinsel an der Osloer Straße, Ecke Prinzenallee im Stadtteil Wedding steht. „Ein guter Standort“, weiß Frank Spieß. Hier hält die Linie 50 direkt vor seinem Container. Menschen warten auf dem Bahnsteig, werden alle fünf Minuten vom gelben Schienenwurm verschluckt oder ausgespuckt. Seinen Imbiss hat er in einem feurigen Rot lackiert. „Da kann keiner vorbei, ohne zu gucken“, sagt er. Wenn seine Kunden bestellen, müssen sie etwas lauter sprechen als sonst, sie reden gegen das Dröhnen der Motoren an. Autos rauschen pausenlos vorbei. Kommt ein Lastwagen, wackelt die Bude. Die Straßenbahn bimmelt, wenn jemand zu dicht am Gleis steht. Gerade fährt ein Krankenwagen mit Blaulicht vorbei. Die Stammkunden bleiben routiniert: „Ohne Darm, Stufe 4. Pommes nackig.“ Damit ist alles gesagt. „Ich nehme den Lärm kaum noch wahr“, sagt Frank Spieß, „hier bei uns auf der Insel ist der Pegel immer hoch.“ Um ihn herum ist alles in Bewegung. Nur Frank Spieß und sein Imbiss sind immer da, sind die einzige Konstante, der ruhige Pol auf dieser Kreuzung.
Touristen haben hier wenig zu gucken. Viele seiner Kunden wohnen gleich um die Ecke. Viele, die regelmäßig kommen, reden und reden und reden, als ob es kein Morgen gäbe. Für sie ist Frank Spieß wie ein guter Freund, auf den man sich verlassen kann, den man immer besuchen kann, wenn man möchte. „Currywurst verkaufen kann jeder“, sagt er, „wichtig ist doch aber, wie man mit den Leuten umgeht.“ Und selbst denen, die bloß bestellen, essen und gar nichts sagen, entlockt er immer noch ein Lächeln. „Ich mache diese Arbeit wirklich gerne“, sagt Frank Spieß.
Der Imbiss ist wie eine warme Höhle. Die acht Quadratmeter sind durch die Fritteuse und den Grill schnell aufgeheizt. Das Fett blubbert. Die Würste zischen. Der Dunst dringt in die Kleidung. Schon nach wenigen Minuten hat sich eine schmierige Schicht auf Haut und Haare gelegt. Da hilft auch keine Abzugshaube. Den Ketchup und die Paste aus frischen Habanero-Chilis macht Frank Spieß selbst. Lange musste er testen, bis die optimale Rezeptur gefunden war. „Ohne Konservierungsstoffe“, betont er. Der Rest ist sein Geheimnis. Rund 20 Liter Ketchup braucht er am Tag, dazu 150 Würste und zehn Kilo Pommes.
Mit oder ohne Darm? Pommes mit Ketchup oder Mayo? Ein Brötchen oder ein Getränk dazu? Die Fragen des Alltags wiederholen sich. Man wird nicht Besitzer einer Imbissbude, wenn alles gut gelaufen ist im Leben. Auch bei Frank Spieß war das so. Gerne wäre er Erzieher geworden, doch dafür hatte es in der Schule nicht gereicht. Zehn Jahre war er Maurer, dann wurde er arbeitslos. Als er in der Zeitung las, dass ein mobiler Imbiss zum Verkauf steht, überlegte er nur kurz. Er ist gerne unter Leuten. „Ich wollte mal was riskieren“, sagt er, „ohne Finanzspritze vom Amt hätte ich es aber nie geschafft.“ Im Sommer wird er seine Currywurstbude sechs Jahre haben.
Geht man die Osloer Straße weiter Richtung Osten, erreicht man bald den ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße. Hier wurden am späten Abend des 9. November 1989 die Passkontrollen eingestellt, hier begann die Mauer zu bröckeln. Frank Spieß ist hier regelmäßig über die Grenze in das andere Berlin. Offiziell wurde die Tante besucht. Bei der Gelegenheit ging er mit seinen drei Schwestern zum Einkaufen oder ins Kino. Im Osten lief Winnetou, zuhause im Westen Bruce Lee. „An der Mauer bin ich groß geworden“, sagt er, „wir hatten nicht viel Geld, Turnschuhe gab es immer aus dem Osten.“
Der Wedding liegt mitten in Berlin und doch am Rande. Rund 15 Minuten sind es bis ins Stadtzentrum. Zu weit für viele Weddinger. Sie haben ihr eigenes Zentrum. Früher war der Wedding ein Arbeiterbezirk, heute fehlt es hier an Arbeit. Es gibt mehr Dönerläden als Currywurstbuden. Jeder Dritte ist nicht in Deutschland geboren. Türkische Großfamilien, viele Hunde mit Herrchen, Studenten, Rentner, Junkies. „Bunt ist der Wedding“, sagt Frank Spieß, „hier leben noch immer die kleinen Leute mit dem kleinen Portemonnaie. Und wenn es am Monatsanfang Geld gibt, rennen sie mir die Bude ein.“
Seine Currywurst kostet 1,30 Euro. Auf dem Potsdamer Platz könnte er 1,70 nehmen, auf dem Kudamm 2,30 oder mehr. Günstiger als im Wedding kriegt man die Wurst nirgends. „Billig ist hier zuhause“, sagt einer seiner Kunden. Wenn das Geld mal flüssiger ist, möchte Frank Spieß anbauen, damit die Kundschaft sich auch mal setzen kann und vor Wind und Regen geschützt ist. „Das wäre ein Traum“, sagt er. Mittlerweile fahren manche sogar durch die halbe Stadt oder kommen von noch weiter her, weil sie von seinen scharfen Würsten gehört haben. Heute ist ein Pärchen aus Heidelberg angereist, das sich nun gegenseitig vor der Bude fotografiert. „Chilitouristen“, nennt Frank Spieß sie, „wenn ich jeden Tag einen neuen Kunden gewinne, kann ich mir vielleicht meine Rente verdienen.“ Er sagt: „Kleine Schritte, aber immer weiter.“
An den mit Flammen bemalten Stehtischen hüpfen gerade zwei Frauen von einem Bein aufs andere. Stufe sechs. Für die letzten Stunden bis Feierabend hängt Frank Spieß noch eine Lichterkette auf. „Licht ist wichtig“, sagt er. Auch aus großer Entfernung ist sein Imbiss nun gut zu sehen. Die rote Bude strahlt jetzt wie ein Weddinger Wahrzeichen, wie der Leuchtturm einer Insel in unruhiger See.
Dies ist ein Textauszug. Lesen Sie die ganze Geschichte in Buntland – 16 Menschen, 16 Geschichten.
Zum Nachhören: Frank Spieß im Interview (Auszug)
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