Wenn der Schnee an den Bäumen klumpt und der Nebel am Fenster gefriert, dann ist Ingo Nitschke glücklich. Denn dann ist er fast alleine am höchsten Berg Norddeutschlands. Seit bald 40 Jahren arbeitet er auf dem Brocken als Wetterbeobachter und ist inzwischen eine echte Größe am Gipfel.
Ingo Nitschke mag den Vergleich mit Reinhold Messner nicht. Er sagt: „Das ist nicht nett. Das ist zu einfach.“ Das stimmt – wobei eine gewisse Ähnlichkeit nicht weg zu diskutieren ist. Ingo Nitschke brummt mit seiner tiefen Stimme wie ein Bär und stapft mit seinen 1,93 Meter immer auch ein wenig tapsig durch das Leben. Er hat lange, graublonde Locken, die aussehen, als hätte sie ein Sturm gekämmt. Sie wippen lustig hin und her, wenn er erzählt. Und er muss – wie Messner auch – bereits bärtig auf die Welt gekommen sein. Dazu trägt er eine Brille, einen weißen Frosch als Anhänger an einem Lederband um den Hals und einen giftgrünen Pullover, dessen Marke gut zu ihm passt: Mammut. Der Mittfünfziger-Jährige ist eine echte Größe hier am Brocken, dem mit 1141 Metern höchsten norddeutschen Gipfel, der einst ein geteilter Berg war und heute Teil der Grenze von Sachsen-Anhalt und Niedersachsen ist.
Seit bald 40 Jahren arbeitet Ingo Nitschke hier oben im Hochharz. Er ist Wettertechniker, das heißt, er beobachtet das Wetter – Niederschlag, Temperatur, Luftdruck, Schneehöhe, Windgeschwindigkeit. Alle halbe Stunde meldet er dem Deutschen Wetterdienst seine Messergebnisse. Sieben Männer besetzen im Schichtdienst die Wetterwarte, die seit 1895 steht und die mit ihrem markanten Turm auch aus großer Entfernung gut zu sehen ist. Heute allerdings nicht: Dichtes Schneetreiben nimmt die Sicht. Nebel hat sich zusätzlich über den Berg gelegt. Windschiefe, dürre Fichten krümmen sich unter der Last des Schnees und sind zu fremden Wesen mit verkrüppelten Armen mutiert. Es dämmert. Einige unbeirrbare Touristen schwanken als dunkle Gestalten auf dem Gipfel umher. Das Fauchen und Zischen der antiken Dampflok, die mehrmals täglich auf schmalspurigen Gleisen 16 Kilometer den Blocksberg hinaufschnauft, klingt wie ein heiseres, wildes Tier.
Ingo Nitschke sitzt derweil oben im Turm der Warte an seinem Schreibtisch mit den Monitoren, auf denen die Schneefront als rote Fläche über Norddeutschland hinweg zieht. Wenn er aus dem Fenster guckt, blickt er wie durch eine Milchglasscheibe. Es ist fast vollständig mit Eiskristallen zugewachsen. „Mit Nebel sind wir Spitzenreiter in Europa“, sagt er, „306 Tage im Jahr! Und 2007 hatten wir fast 3000 Liter Niederschlag pro Quadratmeter.“ So kann nur einer reden, den extreme Wetterphänomene faszinieren. Nitschke sagt: „Verrücktes Wetter macht mir Spaß.“ Schlimm findet er dagegen, wenn an strahlend schönen Sommertagen oder am Tag der deutschen Einheit 20.000 Touristen und mehr die Kuppe stürmen, ihren Müll liegen lassen und für Erbsensuppe anstehen. Dann sehnt er sich nach dem Sonnenuntergang, wenn es wieder ruhiger wird, die Füchse herauskommen und er seinen Fotoapparat in die Hand nehmen kann: „Lange Schatten, rotes Licht, nur der Berg und die Tiere.“
Nitschke erzählt aber auch, dass es richtig unheimlich werden kann, wenn bei 200 Stundenkilometern und mehr der Turm ins Wanken gerät. Jetzt bläst der Wind mit moderaten 95 km/h. Und die Frösche wackeln bereits leicht hin und her – über 800 sind es mittlerweile. Erst kürzlich hat er alle mal geputzt. Als er hier oben anfing, bekam er zwei Wetterfrösche von seiner Nachbarin geschenkt. Und nach der Wende, als immer mehr Besucher kamen, wurden es auch immer mehr Frösche. Der Brocken ist der meist besuchte deutsche Berg. Und viele lassen sich auch die Wetterwarte zeigen und bringen dann Frösche mit. „So einfach ist das.“
Sein Leben lang ist der Wettermann mit dem Berg verbunden. Der Raum, in dem er heute sitzt, war früher sein Spielzimmer und ist heute sein Arbeitszimmer. Schon seine Eltern waren beide in der Station tätig. Und auch Ingo Nitschke musste sich zu DDR-Zeiten den Platz hier oben mit bewaffneten Grenzposten teilen. Die Mauer verlief quer über den Brocken, der zu einem Symbol der deutschen Teilung wurde. Genauso wie ein Bild von Ingo Nitschke und seiner Frau Corina, das um die Welt ging und heute in allen Geschichtsbüchern auftaucht. Er holt das Foto aus der Schublade. Die beiden waren damals auf das Dach des Turmes gestiegen und hatten ein Transparent gespannt. Zwei Worte und ein Ausrufezeichen hatten sie auf das Bettlaken gemalt: Mauer weg! Am 3. Dezember 1989 war das. Und unten standen 6000 Demonstranten, die aus den umliegenden Dörfern des Harzes in einem Sternmarsch auf den Gipfel gekommen waren, um den Brocken zu befreien, der auch drei Wochen nach Mauerfall noch immer militärisches Speergebiet war. Die Menschen unten sahen die Botschaft und wussten nun, dass auch da oben welche von ihnen waren. Und die Grenzer öffneten die Tore, die sich nie wieder schließen sollten.
Die Nitschkes wohnen in Schierke, 700 Einwohner, am Südostfuß des Berges auf einem idyllisch gelegenen Campingplatz am Waldrand mit Blick auf den Brocken – ihrem Campingplatz. Sie hatte ihn eines Tages gefragt: „Hasi, baust du mir einen Campingplatz?“ Er hatte geantwortet: „Ja, mach’ ich!“ Nach drei Jahren war er fertig, dann eröffneten sie. Vor zehn Jahren war das. Zeltplätze, Stellplätze für Wohnmobile, kleine Holzhütten in bullerbürot gestrichen. Jeden Tag im Jahr haben sie geöffnet. Gäste sind immer da. Auch im Winter. Keine Dauercamper. Viele Skitouristen und Outdoorverrückte, die bei jeder Witterung im Zelt schlafen und ihr neues Equipment für größere Bergtouren im Himalaja oder anderswo auf der Welt testen wollen. „Das sind Leute, die ihren Jahresurlaub gerne im Schnee verbringen. Viele kommen auch aus dem Flachland und wollen mal erleben, wie das ist, früh aus dem Zelt zu kriechen und im Winterwald zu stehen.“
In der Hütte gleich vorne beim Eingang, wo auch die Rezeption untergebracht ist, hängen große Fotos an der Wand, die die Nitschkes auf Tour zeigen. Jedes Jahr verreisen sie mindestens einmal. Oft mit dem Fahrrad. 1983 auf dem Tandem bis zum ungarischen Balaton. 2002 ans Nordkap. 2009 Polarkreis und Lofoten. Gerade waren sie mit ihren Hundeschlitten zwei Wochen im Norden Dänemarks. Seit zehn Jahren haben sie ihre Huskys. Keine Stoppuhr, keine Hunderennen – „nur zum Spaß“, sagt Ingo Nitschke. Und dann fasst er zusammen, was wirklich wichtig ist: „Der Brocken, das Wetter, die Huskys, der Campingplatz, unsere Radtouren, ein bisschen Skifahren – das ist unser Leben. Und das reicht uns auch.“