Jeden Sommer setzt sich die Karawane in Gang, dann ziehen sie los: die VW-Bus-Nomaden. Sie gehen mit ihren rollenden Häusern auf Reisen, treffen sich mit Gleichgesinnten und leben die Beziehung zu ihren Autos – wie Heike und Thomas Küsel.
Heike Küsel trägt ein rotes T-Shirt, darauf steht der Schriftzug des Vereins: VW Bus Club No Limits. Der Name soll gleichzeitig das Motto sein: Ohne Grenzen. Das T-Shirt kann man in keinem Geschäft kaufen. Nur wer Mitglied ist, bekommt eines. Über das Hemd hat sich Heike Küsel eine dunkelblaue Weste mit blau-weißen Volkswagen-Logo gezogen. Das VW-Zeichen ist auf der linken Seite – auf Höhe ihres Herzens. „Wir sind Benziner“, sagt sie. Ihr Mann Thomas sitzt neben ihr und nickt. Auch er trägt die rote Vereinskluft mit dem Schriftzug. „Wir waren von Anfang an Benziner“, sagt er. Jetzt nickt sie. „Ein Diesel macht kein so schönes Geräusch“, weiß der Ende-40-Jährige, das klinge eher wie ein gequältes Brüllen. Thomas Küsel arbeitet als Staplerfahrer. Und wenn er am Abend von der Schicht nach Hause kommt, kann seine Frau ihn schon hören, bevor er mit seinem T3 um die Ecke biegt. „Das ist das unverwechselbare Geräusch des Boxermotors“, sagt sie, „ein gleichmäßiges, metallisches Brummen – irgendwie schön.“
Thomas Küsel fährt einen feuerroten Bus mit Hochdach, Jahrgang 1987. „Erst 140.000 gelaufen“, sagt er. Das T steht für Transporter, die 3 für die dritte Generation des Bullis, die von 1979 bis 1992 gebaut wurde. Dann beginnen die Küsels aufzuzählen, wie viele Busse sie in den letzten 17 Jahren besessen haben. Nach einigen Minuten und etwas Diskussion kommen sie auf zehn. „Da kommt ganz schön was zusammen“, sagt Thomas Küsel. Vor Jahren mal hatte der gelernte KFZ-Mechaniker in seiner Garage einen T2 stehen, Jahrgang 1968. „Das war mein absoluter Traum“, sagt er. „Mein Baujahr“, sagt seine Frau. Doch es wäre zu viel Arbeit gewesen, den Oldtimer wieder fahrbereit zu kriegen. „Ich ärgere mich heute noch, dass ich ihn verkauft habe“, sagt er. Seine Frau nickt wieder.
Die Bullifreunde No Limits aus Schneverdingen in Niedersachsen sind eine rotgekleidete Gruppe, die eines vereint: Sie alle fahren VW Bus und reden gerne darüber. Die Küsels sind Mitglieder der ersten Stunde, vor zehn Jahren fing das an. Acht Mitglieder haben sie heute, „wir waren aber schon mal mehr“. Dann habe der eine oder andere aber seinen Bus verkauft, und ohne Bulli könne man ja schlecht aktives Mitglied in einem Bulliclub sein. Zwanzig eingetragene Vereine gibt es in Deutschland, dazu kommen unzählbare Fanclubs, Interessengemeinschaften und private Homepages. Und beinah jeder Club veranstaltet jedes Jahr ein großes Treffen, wo nostalgisch gestimmte Liebhaber ihre Busse vorführen, wo Technikfreaks über Explosionszeichnungen und Flanschformen diskutieren, wo Wildfremde zusammenkommen und keine Nachnamen haben.
Der VW Bus ist längst der Klassiker des mobilen Lebens, eine Mischung aus Häuslichkeit und Abenteuerlust. Eine rollende Trutzburg.Auch die Küsels brechen mit ihren beiden Kindern auf, so oft es geht. Mehrmals im Sommer steuern sie in ihrem Haus auf Rädern Bullitreffen an, um mit Gleichgesinnten in Wagenburgen zu wohnen. Und auch die No Limits organisieren regelmäßig Wochenenden auf einem Campingplatz, der sich für einige Tage in ein kleines Busdorf verwandelt. Dieses Mal sind knapp 90 Bullis aus ganz Deutschland angereist. „Und jeder ist einzigartig und zeigt die Persönlichkeit seines Besitzers“, sagt Heike Küsel. Das ist zum Beispiel Marcel aus Neumünster in seinem tiefer gelegten und blank polierten T3. Seit sieben Jahren schraubt er an diesem Auto herum. „Immer wenn Geld über ist, wird es in den Bus gesteckt.“ Oder Sabine und Stefan aus Walsrode mit ihren Kindern – ihren weißen T3 mit Hochdach betrachten sie längst als vollständiges, fünftes Familienmitglied. „Wenn der mal kaputt ist, fehlt er uns richtig.“
Wolfgang Arndt ist mit dem ältesten Modell aus der Nähe von Münster gekommen – einen marineblauen T2, Baujahr 1975. Wenn der Mitte-40-Jährige von seinem Bus spricht, leuchten seine Augen: „Das ist mein allererstes Auto, da steckt noch keine Werkstattstunde drin, alles selbst gemacht.“ Er zeigt seine Handinnenflächen, als wolle er seine Sätze damit beweisen. Er sagt: „Wenn ich mich gut um ihn kümmere, wird mein Bulli mich in jeden Urlaub und immer nachhause bringen.“ Halb Europa hat Wolfgang Arndt in seinem kompakten Reisemobil schon gesehen. Und dann sagt er den großen Satz, den jeder Bullifahrer nachempfinden kann: „So ein Bus bedeutet Freiheit.“
Gleich neben ihm steht Peter Reimer, stolzer Besitzer eines Sondermodells, einer „Limited Last Edition“. Nur 2500 Mal ist diese gebaut worden. „Seriennummer 1267“, sagt der Mittsechziger. Peter Reimer hat ihn damals auf einem großen Automarkt in Wolfsburg gekauft und gleich in bar bezahlt, 33.500 Mark hat er gekostet. „Ein Schnäppchen“, sagt er und wiederholt noch einmal die Nummer: 1267. Diese Zahlen sind ihm wichtig. Und auch das Kennzeichen: SL-LE 1267. SL steht eigentlich für die Kleinstadt Schleswig in Schleswig-Holstein. Bei Familie Reimer gibt das Kürzel aber Auskunft über sehr viel mehr: „Silkes Limited Last Edition 1267“, sagt Peter Reimer und strahlt. Silke ist seine Frau.
Inzwischen werden auch Mützen und Handtücher mit diesen vier Ziffern bestickt. „Das muss alles passen“, sagt Peter Reimer, der seit mehr als 30 Jahren VW Bus fährt. Das Ehepaar kann sich allerdings nicht einigen, wann es genau war, als ihr mobiles Leben in Gang gekommen ist – ob vor der Geburt des dritten Kindes oder danach. Silke Reimer erinnert aber noch, dass eines der ersten Dinge, die ihre Kinder in jungen Jahren bereits lernen mussten, ebenso kurz wie einprägsam war: „Weg vom Lack!“
Die Kaste der Bullifahrer ist vielfältig. Thomas Küsel sagt: „Auf jedem Treffen hat man neue Nachbarn, es kommen Menschen aus allen Schichten.“ Der Oberarzt parkt neben dem Maurer, der Beamte neben dem Arbeitslosen, man trifft ehemalige Häftlinge und Schuldirektoren – und sie alle verbindet eine gemeinsame Leidenschaft, ein bestimmtes Lebensgefühl. Denn VW-Bus-Besitzer gelten als lässige Individualisten und gehören zu der Spezies im Straßenverkehr, die sich untereinander grüßen, so wie Motorradfahrer anderen Motorradfahrern winken oder Golf-GTI-Fahrer anderen Golf-GTI-Fahrern mit der Lichthupe ein kurzes Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit signalisieren. Und so grüßen T1-Fahrer T3-Fahrer, T2-Fahrer T1-Fahrer, T3-Fahrer winken T1-, T2- oder T3-Fahrern, allerdings so gut wie nie T4- oder T5-Fahrern. „Die sind zu neu und gehören irgendwie noch nicht so richtig zur Familie“, sagt Heike Küsel, die selber einen T4 fährt, Baujahr 1995 mit 110 PS. „Die sind praktisch“, sagt sie, „aber die älteren Bullis haben mehr Seele.“
Thomas Küsel klopft auf das Dach seines durstigen Benziners. Er sagt: „Auch wenn es abgegriffen klingt: Mit so einem Auto ist der Weg das Ziel.“ In seinem Bulli taucht er in einen Zeitraum ein, der vielen anderen vorbeizischenden Autofahrern verschlossen bleibt. In Michael Endes Buch „Momo oder die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben“ stellen die grauen Männer von der Zeitbank dem Mädchen Momo nach und sind ihr schließlich auf den Fersen. Doch in höchster Not fällt Momo etwas auf: Je langsamer sie geht, desto weiter bleiben ihre Verfolger zurück. Deren Schnelligkeit nützt ihnen nichts, da die Zeit plötzlich auf der Seite der Langsamen ist. Auch Thomas Küsel kennt dieses Buch und dieses Gefühl. Er sagt: „Wenn du Bulli fährst, wirst du ruhiger. Du hast mehr Zeit.“ Ein Bus und sein Fahrer seien eine Liaison fürs Leben, eine Bulli-Mensch-Beziehung, weiß Thomas Küsel: „Ohne Bus geht es nicht mehr.“ Seine Frau sagt nichts, sie nickt auch nicht, aber sie lächelt.