Es gibt sie noch, die Orte mit echter Seefahrerromantik, wo Gedanken auf Reisen gehen können – selbst im eher nicht so schönen Kiel. Im kleinen Schiffercafé von Alexander Stieler werden große Gefühle und südamerikanische Leidenschaft gelebt. Es wird Tango getanzt. Und auch Kommissar Borowski ermittelte schon hier.
Wenn Alexander Stieler aus seinem Wohnzimmerfenster guckt, sieht er die ganze Welt vorbeifahren. Dort ist das Wasser, die Kieler Förde, und auch das Meer ist nicht weit. Dort ist die Schleuse zum Nord-Ostsee-Kanal. Rund hundert Kilometer sind es einmal quer durch Schleswig-Holstein. Das schaffen die großen Pötte in acht bis zehn Stunden. Die Fahrpläne der Passagierfähren, die nach Oslo, Göteborg und Klaipeda fahren, kennt Stieler auswendig. Und wenn die großen Kreuzfahrtriesen durch den Kanal kommen, dann gibt es jedes Mal einen großen Menschenauflauf vor seiner Haustür.
„Vor meinem Fenster ist immer was los, da kannst du immer was erleben.“ Jetzt gerade schieben sich zwei Containerschiffe in den Kanal, ein weiteres kommt heraus und fährt die Förde hinunter, weiter in die Ostsee. Manchmal langt schon das Gefühl von Weitblick und Fernweh, um zufrieden zu sein, sagt er, „dass man losfahren könnte, wenn man wollte“. Und dafür ist Kiel eine ideale Stadt – es gibt nicht viel, was einen hält, aber sehr viel, was die Fantasie anregt. Die Aussicht ist schiffig.
Alexander Stieler ist schon häufig umgezogen in seinem Leben. 27 Mal insgesamt. Geboren ist er in Carbonia, einer Kleinstadt an der Südspitze Sardiniens. Sein Vater arbeitete dort für einige Jahre als Maschinenbauingenieur. Dann ging es nach Flensburg, Heilbronn, Kiel, drei Jahre nach Saudi Arabien, Starnberg am See und Oberhachingen. Es folgten Stationen in Essen, Aachen, Trier, Hamburg und Berlin. Im Mai 2007 kam er zurück nach Kiel. Er hatte eine Stelle als Hausverwalter gefunden. So schnell wird er nun nicht mehr umziehen, sagt er. „Ich bin angekommen. Hier gehöre ich hin.“
In der Landeshauptstadt blicken die Menschen immer in Richtung Förde, heißt es, da die Stadt selbst keine Schönheit ist. „Kiel ist klein“, sagt Alexander Stieler, „nach dem Krieg hatte man nicht viel Zeit, da musste der Wiederaufbau schnell gehen. Quadratisch, praktisch gut.“ Kiel kann aber auch eine Stadt für den zweiten Blick sein – wie am Tiessenkai im Stadtteil Holtenau, dort wo der Anfang-40-Jährige mit seiner Frau und seinem Sohn wohnt, wo er ein kleines Hafencafé betreibt. Der blonde Brillenträger mit der hohen Stirn, dem vollen Gesicht und dem gemütlichen Bauch hat eigentlich Speditionskaufmann gelernt. In Berlin organisierte er dann Veranstaltungen in der Max-Schmeling-Halle. Es folgte der Job bei der Hausverwaltung. Heute nennt er sich einen gastronomischen Querseinsteiger.
Der Tiessenkai ist ein Ort, wo die Dinge noch von alleine geschehen, wenn man sie lässt. Die meiste Zeit des Jahres liegen viele Traditionsegler direkt vor der Tür am Pier, stolze Dreimaster, manche vor mehr als hundert Jahren gebaut. Hundert Meter weiter, das Kopfsteinpflaster hinauf, steht der Holtenauer Leuchtturm von 1895. „Man kann hier seine Ruhe haben“, sagt Stieler, „man kann die Zeit anhalten und den Stress hinter sich lassen.“ Er hätte auch trendiges Szenecafé aus seinem Laden machen können, „doch das hätte hier nicht gepasst“, sagt er, die Atmosphäre sei eine andere, eine nostalgische. Deshalb lässt er auch die alten Schilder dran. Hermann Tiessen Schiffsausrüstungen steht da in großen, schwarzen Buchstaben an der Fassade des roten Backsteinhauses.
Das alte Kontorhaus steht unter Denkmalschutz. Und Teile der alten Ladeneinrichtung sind noch erhalten. Etwa das meterhohe, dunkelgrüne Wandregal mit den vielen Schubladen. An der Decke hängen Fischernetze und Taue, Beschläge und Petroleumlampen. Früher wurde hier alles verkauft, was man an Bord brauchen konnte. 5000 verschiedene Artikel. Ein Tante-Emma-Laden für Seeleute. Und jeder Matrose, der regelmäßig nach Kiel kam, kannte Tiessen, den Schiffsausrüster. Der hatte nicht nur alles, der konnte auch alles besorgen. Einmal wollte ein Kapitän ein Klavier für sein Schiff. Tiessen besorgte ein Klavier. Der nächste wollte eine Tischtennisplatte. Tiessen besorgte die Platte. Und er führte genau Buch darüber, wer, wann, was bei ihm gekauft hatte. Jeden Lolli, jede Dose Bohnen schrieb er auf. Und auch Jahrzehnte später konnte er den Leuten noch erzählen, an welchem Tag der Vater oder der Großvater etwas bei ihm eingekauft hatte.
1927 hatten die Tiessens ihren Laden eröffnet. Ende 2005 mussten sie aus Altersgründen schließen. Ein Café wurde daraus. Doch die Geschichten vom Klavier oder der Tischtennisplatte erzählt man sich heute noch in Holtenau. „Die bleiben am Leben. Das ist Nostalgie pur“, sagt Alexander Stieler, der das Schiffercafé vor eineinhalb Jahren übernommen hat. Jetzt, im Winter, hat er nur am Wochenende geöffnet. Doch die Nachmittage können wie aus Drehbüchern sein. Gerade läuft die Titelmelodie aus „Spiel mir das Lied vom Tod“. Auf einem der alten Sofas mit den Blümchenmustern sitzen zwei ältere Damen, trinken Kaffee, schauen aus den großen Panoramascheiben auf die Förde und belauschen die beiden Männer am Nebentisch. Die diskutieren darüber, welcher Seemannsknoten besser zum Festmachen taugt: der Webeleinstek oder der Pfahlstek. „Sieben Jahre haben wir jetzt nicht miteinander gesprochen“, sagt der eine. „Und jetzt reden wir über Knoten“, sagt der andere. Beide lachen und schütteln die Köpfe.
Ein Mann mit einem Schifferklavier kommt herein und spielt alte Seemannslieder – jedenfalls klingen sie so. Zwei ehrenamtliche Mitarbeiter der benachbarten Seemannsmission verkaufen Rubbellose für einen Euro. Sie haben kleine Plastikeimer, aus denen man die Kärtchen ziehen kann. Hauptgewinn: Eine Schiffsreise nach Oslo. Zweiter Preis: Eine Hafenrundfahrt in Kiel. Der Rest: Kleingewinne. Und auf der Rückseite der Lose steht auch noch was: 80 % des deutschen Außenhandels werden über See transportiert – und wie sieht der Alltag der Seeleute aus? Selten Kontakt mit der Heimat, lange Abwesenheiten, kurze Hafenliegenzeiten, Stress und Übermüdung, Vereinsamung. Wer das liest, wird nie zur See fahren wollen – oder aus Mitleid noch mehr Lose kaufen.
Zweimal wurde im Schiffercafé auch schon ein Tatort gedreht. „Borowski und die einsamen Herzen“ war einer der Titel. Alexander Stieler baute gerade seine Wohnung im ersten Stockwerk aus. Unten ermittelte Kommissar Borowski alias Axel Milberg. Stieler stand oben, versteckte sich hinterm Vorhang und beobachtete die Dreharbeiten. Und als ein halbes Jahr später der Krimi gesendet wurde, sah man ihn in einer Szene am Fenster stehen. „Man muss es wissen und genau hingucken“, sagt er, „dann sieht man mich.“ Und wer genau hingesehen hat, fragt sich vermutlich heute noch: Wer war der unbekannte Mann am Fenster?
Jetzt wird getanzt im Schiffercafé: Tango. Denn auch der stolze Paartanz hat viel mit Fernweh und Sehnsucht zu tun. Vielleicht ist er mit seinem exotischen und gleichzeitig schwermütigen Rhythmus deshalb so beliebt bei den Kielern. Heute wiegen sich neun Paare zu den melancholischen Klängen. Gedämpft gleiten sie über den Dielenboden. Tangueros sind niemals in Eile. Manchmal hebt sich eine Schuhspitze und malt Kreise in die Luft. Frauenbeine schlingen sich im Klammerschritt um Männerwaden. Dann fließen die Paare weiter. Tango kann trösten, sagt eine der Tänzerinnen. Jeder Tanz ist wie ein großer, aber schöner Schmerz, glaubt ihr Partner.
Stielers Vorgänger, ein Kapitän, der 25 Jahre lang die Welt bereiste und den Tango in Argentinien kennen gelernt hatte, hatte seine neue Leidenschaft an den Tiessenkai mitgebracht. Seitdem wird der Pier auch Klein Argentinien genannt. „In Buenos Aires gibt es viele Tangobars am Hafen“, erzählt Stieler, der – auch wenn er selber nicht tanzt – die Idee übernommen hat. „Der Tango gehört hier an den Kai“, sagt er. Und als einmal zwei Argentinier, die in Norddeutschland Urlaub machten, im Café standen, fühlte er sich bestätigt: „Das ist ja wie zu Hause“, riefen sie und konnten sich gar nicht mehr einkriegen.
Alexander Stieler sagt, er war viel unterwegs in seinem Leben, doch nun ist er angekommen. Und er sagt, er braucht bloß vor seine Haustür gehen, um in Gedanken zu verreisen. „Wenn ich aufs Wasser gucke, dazu ein Glas Rotwein trinke, ein Stück Käse und ein Baguette esse und meinen Schatz im Arm halte, bin ich ein glücklicher Mensch. Und auch meinen Gästen kann ich diesen Blick aufs Wasser, den Wein, den Käse und das Baguette bieten – nur ihren Schatz, den müssen sie selber finden.“