Michael Geyer ist einer der letzten seiner Art in Deutschland: Er ist Stockmacher. Und seine Wanderstöcke sind in aller Welt bekannt. Eine Geschichte über den Wanderstock, der vom Aussterben bedroht ist, aber noch immer als Symbol einer Pilgerreise gilt.
Jeder kennt Peter Ustinov. Und fast jeder dürfte auch das Foto kennen, auf dem der mittlerweile verstorbene Schauspieler, schelmisch durch den ovalen Griff seines Gehstocks lugt. Natürlich auch Michael Geyer, der ein wenig stolz auf dieses Foto ist. Er sagt: „Mein Vater hat diesen Stock gemacht.“ Und manchmal sieht er auch andere Stöcke aus seiner Werkstatt, wenn sie im Fernsehen oder auf Bildern im Internet auftauchen. Dr. House, der TV-Arzt aus der gleichnamigen US-Serie etwa, stützt sich ebenso auf ein Unikat aus dem Hause Geyer wie der frühere Ministerpräsident Thüringens Dieter Althaus oder einst auch Otto Graf Lambsdorff.
Michael Geyer steht in der kleinen Stockfabrik im thüringischen Lindewerra, genau da, wo schon sein Ururgroßvater den ersten Stock dämpfte, bog und trocknete. Seit über 160 Jahren wird in dieser Werkstatt geschliffen, gefräst, verziert und gebeizt – 32 Arbeitsschritte braucht es bis zum fertigen Wanderstock. Hunderte, dunkelbraune Gehstöcke mit gebogenem Griff hängen an Drahtseilen unter der Decke. Rohlinge aus Edelkastanie liegen auf Transportwagen gestapelt in einer Ecke. Feiner Holzstaub hat sich auf alles gelegt.
Rund 70000 Stöcke werden hier jedes Jahr handgefertigt. Allein vom traditionellen Wanderstock mit glänzender Bergstockspitze sind es fast 40000. Zwei Angestellte hat Michael Geyer. 200 Modelle hat er in seinem Sortiment, meist aus Kastanienholz, das aus Spanien und Südengland kommt. Rustikale Stöcke mit Naturwurzel. Mit Griffen für Rechts- und Linkshänder. Für Herren, Damen und Kinder. Mit eingebautem Kompass oder mit Glöckchen. Kranken- und Hirtenstöcke, Pilger-, Jagdsitz- und Spazierstöcke. Michael Geyer sagt: „Jeder Stock hat seine eigene Geschichte. Jeder Stock ist ein kleiner Baum.“ Und ein Qualitätsstock bedeutet, dass er viele Jahre alt werden, nicht selten sogar ein Menschenleben überdauern kann.
Michael Geyer ist kein typischer Thüringer, jedenfalls nicht, wenn man glaubt, was viele erzählen, dass Menschen aus Thüringen stets ausdauernd und gerne reden wollen. Der Mann Mitte 40 ist eher schweigsam. Er ist ein schlanker, kräftiger Mann mit kurzen Haaren und Glatze. Seine Hände verraten viel mehr über ihn und seinen Alltag als seine Worte. Die Arbeit hat Spuren hinterlassen, hat Furchen hineingegraben und Schwielen entstehen lassen. Es sind kurze, kräftige Finger, die fest zupacken können.
„So wie es im Erzgebirge die Spielzeugmacher gibt, gibt es hier die Stockmacher“, sagt Michael Geyer, „wobei es nicht mehr viele sind.“ Genau genommen, ist er einer der letzten beiden Erbpfleger einer großen Tradition. Im Nachbarort Bad Sooden-Allendorf gibt es noch eine weitere Stockfabrik. In den 40er Jahren waren es allein in Lindewerra 30 Familien, die fast eine Million Stöcke im Jahr produzierten. Damals, als der Stock noch als Statussymbol galt und wie der Hut zum Mann gehörte. 1836 hatte ein Stockmachermeister aus Göttingen das Handwerk nach Lindewerra gebracht, wo auf den Hängen des nahe gelegenen Höheberges vor allem Eichen wuchsen. Die Rinde wurde damals geschält und zur Gerbsäureherstellung in der Lederproduktion benötigt. Die Bäume starben ab, und aus den Stümpfen wuchsen junge Schösslinge, die ein gutes Material für die Herstellung von Geh- und Stützstöcken aller Art waren.
Heute leben rund 250 Menschen in dem ruhigen Ort, der viele Fachwerkhäuser hat, den man noch immer „Deutschlands Stockmacherdorf“nennt. Dabei gibt es nur noch die Manufaktur der Geyers, deren Wanderstöcke in aller Welt bekannt sind. Deutschland, Österreich, Italien und die Schweiz sind die Hauptabnehmer. Und auch in England, den USA, Frankreich oder Japan gilt eine Gehhilfe aus Lindewerra mittlerweile als zuverlässiger Begleiter. „Viele denken, dass der Stock ein Zeichen von Alter oder Behinderung ist“, sagt Michael Geyer, „wer viel wandert, weiß es besser.“
Das Eichsfeld ist ein Wandergebiet. Unzählige Wege gibt es hier. Wobei die weite Welt überall, nicht aber in Lindewerra zu sein scheint. Es liegt so abgeschieden und eingerahmt von bewaldeten Hügeln in einem Talkessel in den Ausläufern des hessischen Berglandes, als hätte man es vergessen. Hier ist die Mitte Deutschlands – dort, wo Thüringen und Hessen sich berühren, wo die Werra eine Biege macht, die wie eine ovale Schlinge aussieht. Einst verlief hier die Grenze. Jenseits des Flusses lag West-Deutschland, das so mancher im Dorf noch heute so nennt.
Man kann die Trennlinie auch heute noch sehen, wenn man den mit Bäumen bestandenen Höhenzug hinauf guckt. Die breite Schneise, die damals in den Wald geschlagen wurde, wird jetzt von jungen Birken bewachsen. Michael Geyer sagt: „Die Natur hat sich schon vieles zurückgeholt. Das ist gut. Wichtig ist aber auch, dass man manche Dinge nie vergisst.“ Auch wenn es manchmal ein etwas beklemmendes Gefühl ist, wenn er durch das Dorf läuft und die Straße der Einheit hinuntergeht, die früher Friedensstraße hieß und die direkt am dunklen Streckmetallzaun mit dem Stacheldraht endete.
Michael Geyer kann viele Grenzgeschichten erzählen, der Zaun und der Wachturm standen ja nur wenige Meter vom Hof seiner Eltern entfernt. Eine geht so: Regelmäßig kamen die Verwandten aus Kassel ans andere Flussufer, um zu winken und die Familie auf der thüringischen Seite zu sehen. Zurückwinken war verboten, das hatte der Abschnittsbevollmächtigte so angeordnet. Geyers Oma aber wollte sich nicht daran halten. Sie stellte sich dann jedes Mal ans Schlafzimmerfenster im ersten Stockwerk, tat so, als würde sie Fenster putzen und wedelte wild mit dem Staublappen.
Auch Michael Geyer hat seinen eigenen Wanderstock. Es ist ein schulterhohes Exemplar mit dem handgeschnitzten Kopf eines Geiers an der Spitze. Und für ihn war auch immer klar, dass er Firma eines Tages fortführen würde. Der gelernte Tischler hatte schon als Kind seinem Vater und Großvater geholfen und sich alles abguckt. Vor drei Jahren übernahm er den Familienbetrieb. Seine Eltern haben seither eine kleine Wirtschaft gleich neben der Werkstatt. Sie haben das Gasthaus am Tag der deutschen Einheit eröffnet, was kein Zufall war, wie Wolfgang Geyer versichert. Auch wenn die Wende zunächst vieles schwieriger machte. Denn als die Grenze aufging, ging es für die letzten verbliebenen Stockmacher bergab. „Der Einbruch kam 1990“, erzählt der bal 70-Jährige, „als die Genossenschaften aufhörten zu existieren und die Stockmachereien ihre Hauptlieferanten für Holz verloren.“ Wolfgang Geyer erinnert sich, wie er sich damals auf die Suche machte, dass er nicht aufgeben wollte. Wie er sich das Auto eines Nachbarn lieh und bis nach Spanien fuhr. Als er in den Ausläufern der Pyrenäen riesige Kastanienwälder entdeckte und sich handelseinig wurde, konnte es weitergehen.
Wie lange noch, weiß niemand so genau. Die Nordic-Walking-Hysterie und die hochmodernen Glasfaserstöcke mit Teleskopauszug haben den Umsatz in den letzten Jahren einbrechen lassen. „Der Naturliebhaber nimmt den Holzstock, der Sportler den High-Tech-Stock“, sagt Wolfgang Geyer und denkt sich den Rest. Der Hoffnungsträger der Familie aus Lindewerra könnte vielleicht der zehnjährige Enkel sein, der sagt, dass auch er mal Stockmacher werden möchte. Ob sein Vater das gut finden soll, weiß er nicht so recht. „Wir werden sehen“, sagt Michael Geyer, „klar ist, dass er unsere Tradition nicht fortführen muss.“ Einen kurzen Augenblick hält er inne. „Wobei, schön wäre es schon.“