Als Matrose ist Erich Butchereit um die Welt gefahren, hat Stürme auf hoher See erlebt und unzählige Häfen gesehen. Heute setzt er im brandenburgischen Lenzen viele Male täglich über die Elbe. Der über 70-jährige Fährmann verbindet zwei Ufer, die noch immer mehr trennt als die bloße Entfernung.
Erich Butchereit ist kein Freund von Brücken. Er sagt: „Wo Brücken sind, dürfen sie auch bleiben. Aber wo Fähren fahren, braucht man keine Straßen auf Stelzen.“ Butchereit ist Fährmann und verbindet zwei Ufer miteinander, er baut ja quasi eine Brücke. 400 Meter liegen zwischen den beiden Ufern. Es sind Ufer, die früher zwei Länder waren. Das brandenburgische Lenzen auf der einen, Pevestorf in Niedersachsen auf der anderen Seite. Die Prignitz und das Wendland. Ost und West.
Wenn Erich Butchereit zur Arbeit geht, hat er einen Aktenkoffer dabei, in dem er Fahrkarten und Wechselgeld verstaut, und eine Tasche über der Schulter mit einer Kaffeekanne und Proviant für den Tag. Sein Arbeitsweg ist kurz, er braucht bloß aus der Haustür und die wenigen Meter auf dem Deich entlang zum Fähranleger laufen. Seit 1998 leben er und seine Frau in ihrem Haus einen Kilometer außerhalb von Lenzen, der kleinen Stadt mit ihren 2400 Einwohnern. Es ist eine ländliche Gegend ohne Industrie, die nächste große Stadt ist Schwerin, über 60 Kilometer entfernt. Die Butchereits haben keine Nachbarn und werden auch keine bekommen. Sie wohnen mitten in einem Biosphärenreservat.
Ihr Haus ist das einzige in Sichtweite, es steht direkt am Elberadweg. Regelmäßig klingeln Ausflügler bei ihnen und fragen, ob sie sich die Wasserflaschen füllen können. Aus ihrem Wohnzimmerfenster können sie auf den Fluss blicken, aus dem Esszimmer über die Elbtalauen. Nichts verstellt den Blick. Früher schon hatte hier das Haus des Fährmannes gestanden. Die Butchereits bekamen eine Sondergenehmigung, kauften das Grundstück und bauten die Ruine wieder auf. Erich Butchereit sagt: „Wenn ich abends nachhause gehe, kann ich mich nicht verlaufen.“
Gerade rollen zwei Autos auf die kleine Fähre, dahinter führen zwei Reiterinnen ihre Pferde an Bord. Bis 29,9 Tonnen kann die Westprignitz befördern. Erich Butchereit übernimmt jetzt das Steuer und löst seinen Mitarbeiter ab. Er hat zwei Angestellte. Von Anfang Mai bis in den Spätsommer hinein fahren sie von sechs bis 21 Uhr, in Früh- und Spätschicht. Sieben Tage die Woche. Drei Minuten dauert die Überfahrt. Einen Fahrplan gibt es nicht. „Wir fahren auf Sicht, nach Bedarf“, erklärt der über 70-Jährige. Und nicht selten muss er leer übersetzen, wenn am anderen Ufer Wartende zu sehen sind. Der Diesel für eine Tour kostet ihn vier Euro. „So kann man nicht reich werden“, sagt er und schiebt ein kurzes Lachen nach – er hat es von Anfang an gewusst. Aber er kann den ganzen Tag auf dem Wasser sein, und das ist sein Reichtum.
Erich Butchereit ist kein Mann, der leicht aus der Ruhe zu bringen ist. Er sagt, der Blick auf das Wasser beruhige ihn. Er trägt eine schwarze Prinz-Heinrich-Mütze, die seine Glatze versteckt, dazu einen dunkelblauen Troyer, Jeans und Turnschuhe. Mit 15 Jahren lernte er auf der Schifferschule in Schönebeck bei Magdeburg. Auf der Elbe. Für drei Jahre. Doch der zweitgrößte deutsche Strom war ihm schnell zu klein geworden. Er wollte weiter weg – aufs Meer. „Ich war abenteuerlustig.“ Nach seiner Zeit bei der Armee bewarb er sich bei einer Reederei und wurde genommen. Zehn Jahre fuhr er als Matrose zur See. Auf Handels- und Forschungsschiffen. 1966 ging er auf seine erste große Fahrt: Vier Monate nach Indonesien und zurück. Es folgten viele Reisen, darunter Indien und Uruguay, Argentinien und Brasilien – er hat die halbe Welt gesehen. „Ein großes Privileg in der damaligen DDR.“
Der Dieselmotor dröhnt, der Kaffee vibriert in der blauen Plastiktasse. In steter Regelmäßigkeit schieben sich die langen, flachen Binnenschiffe vorbei. Unter ihm schlägt der Puls des Flusses, unaufhörlich und immer in Bewegung. Oben steht Erich Butchereit in der Fährkabine, dem so genannten Ruderhaus, und erzählt von der Seefahrt. Vom Nordatlantik, wo sie vor Grönland mit ihrem Schiff mal 14 Tage gegen den Wind ankämpften, keinen Meter vorankamen und fast gekentert wären. Er erzählt von meterhohen Wellen, und von Bombay, wie er bei 40 Grad das Deck schrubbte.
Erich Butchereit ist Ende 1942 im damals von Nazi-Deutschland besetzten Litauen geboren. „Irgendwo in der Gegend von Kaunas.“ Seither ist er nicht wieder dort gewesen. Mit fünf kam er mit seinen Eltern nach Lenzen. Sie hatten flüchten müssen. Viele Wochen ging es mit einem Pferdefuhrwerk bis nach Polen, dann weiter in einem Güterwaggon. Mehrfach gerieten sie unter Beschuss. Seine Schwester und er lagen in einem Kinderwagen. Einmal schüttelte die Mutter Granatsplitter aus der Bettdecke. Sonst erinnert er nicht viel, nur dass sein Vater einmal irgendwo Kekse aufgetrieben hatte. „Die haben wunderbar geschmeckt.“
Nach seiner Zeit auf See arbeitete Erich Butchereit bei der Wasserwirtschaft in der Einsatzbrigade. Er war für den Hochwasserschutz zuständig, sicherte die Deiche und nahm Wasserproben. Schon damals war er fast täglich auf der Elbe. Und sehr schnell nach dem Mauerfall hatte er die Idee, eine Elbfähre einzurichten. Bis Kriegsende 1945 hatte es in Lenzen schon einmal eine Fährverbindung gegeben. Im Auftrag der Stadt kaufte er eine ausrangierte Fähre in Koblenz. Drei Wochen dauerte die Überführung den Rhein hinunter, auf dem Mittellandkanal, dem Elbeseitenkanal und weiter die Elbe hinauf. Das Deck war undicht, nach jedem Regenguss musste er Wasser pumpen. Es musste viel renoviert und umgebaut werden. Doch am 26. März 1990 brachte die Westprignitz zum ersten Mal Passagiere über die Elbe. Und bis Oktober 1992 war Erich Butchereit noch bei der Stadt angestellt, dann pachtete er die Fähre auf eigene Kosten, was ein großes Wagnis war: Zwei Monate später wurde die Dömitzer Brücke – 20 Kilometer elbabwärts – feierlich eröffnet. Seine Einnahmen gingen um zwei Drittel zurück.
Vor dem Bau der Brücke warteten morgens um sechs schon 18 Autos. Den ganzen Tag ging es hin und her. Ohne Pause. „Heute“, sagt er, „ist der Winter hart. Der Sommer hält uns über Wasser.“ Viele Touristen fahren dann über die Elbe, manche gleich mehrmals – sie zählen fasziniert die Grenzübertritte. Jetzt allerdings, Anfang Mai, sind noch nicht viele Ausflügler unterwegs. Erich Butchereit kennt die meisten der Passagiere. Es sind Stammkunden, Pendler, die eine Wochen- oder Monatskarte haben. In Schnackenburg, zwölf Kilometer den Fluss hinauf, kreuzt die nächste Fähre, insgesamt gibt es noch 45 Elbquerungen dieser Art in Deutschland.
Am Tag zuvor waren Erich und Gerlinde Butchereit aus Trier zurückgekommen, wo sie an einer Tagung des Deutschen-Fähr-Verbandes teilgenommen hatten. Auf einem Fahrgastschiff schipperten sie die Mosel hinauf und hinunter. Es war das erste Mal in den letzten 22 Jahren, dass sie länger als sechs Tage am Stück von Zuhause weg waren. Im Urlaub sind sie noch nie gewesen – wer würde sonst die Fähre fahren. Sie sagt: „Andere verbringen ihre Ferien dort, wo wir wohnen.“ Er sagt: „Ich muss hier nicht mehr weg, ich bin schon mehr unterwegs gewesen als viele andere. Und auf meiner Fähre lerne ich viele Menschen kennen.“
Drei Minuten verbringt Erich Butchereit mit diesen Menschen auf der Elbe. Drei Minuten, die manchmal tief blicken lassen. „In den Köpfen gibt es die Grenze noch immer“, sagt er, „viele unterscheiden noch immer zwischen Menschen aus dem Osten und aus dem Westen. Das ist schade.“ Er selber hat das nie getan. „Dafür bin ich zu weit gereist.“Manchmal wird er auf die einstige Grenze angesprochen, und dass er als Fährmann in gewisser Weise heute noch zur deutsch-deutschen Völkerverständigung beitrage. Seine Fahrgäste stellen dann Fragen, und Erich Butchereit erzählt ein bisschen, wie das damals so war, vor der Wende.
Eine drei Meter hohe, schwarze Wand aus Streckmetall und Stacheldraht stand mitten auf dem Deich. Es gab einen 500 Meter breiten, so genannten Sicherheitsstreifen mit freiem Sicht- und Schussfeld. An die Elbe durfte man nur mit einem Passierschein. Fluchtversuche waren auch in Lenzen nicht selten. Einmal sind zwei Schornsteinfeger durch den Fluss geschwommen. Butchereits zwei Jahre jüngere Schwester gelang mit ihrem späteren Mann 1962 die Flucht über das Eis der Elbe. Einer muss bleiben, hatten die Geschwister immer gesagt, damit die Eltern im Alter versorgt sind. Und auch Erich Butchereit hatte manchmal mit dem Gedanken gespielt, die Seiten zu wechseln – doch seine Schwester war schneller. Sie lebt heute in Australien. Und einer der alten Wachtürme steht heute noch auf dem Deich. Von der Plattform hat man einen schönen Ausblick über den Fluss und die Elbauen, auch Lenzen ist zu sehen. Manchmal steigt Erich Butchereit mit seinem Enkel die steilen Stufen hinauf. Im Turm hängen Fotografien, die die Landschaft, die Tierwelt und die Grenzöffnung am 2. Dezember 1989 zeigen. Doch der kleine Ausstellungsraum, wo früher die Grenzer saßen, ist in einem erbärmlichen Zustand – durch die grünlich, modrige Decke tropft das Wasser.
Fragt man Erich Butchereit, wie lange er noch Fährmann sein wird, muss er lachen. Seine Frau sagt: „Mein Mann ist ein arbeitswütiger Rentner.“ Er selber sagt: „So lange es noch geht, bis der Arzt sagt, dass Schluss ist.“ Für heute ist Schluss. Es ist fast dunkel. Er steuert die Fähre an den Anleger, drückt einen Knopf und der Motor geht blubbernd aus. Erich Butchereit sagt „Blubb Blubb Blubb“, packt seine Sachen und geht von Bord. Einige Angler stehen am Ufer und gehen auf Zander, Hecht und Wels. „Die Elbe hat sich gut erholt in den letzten 20 Jahren“, sagt der Fährmann, „der Fluss reinigt sich selbst.“ Manchmal, wenn gerade keine Passagiere in Sicht sind, nimmt er das Fernglas zur Hand und beobachtet Graureiher und Kraniche, Seeadler und Biber. Die Elbe ist Butchereits Heimat geworden. Die Elbe ist sein Arbeitsplatz. Die Elbe ist sein Urlaubsort. Er nickt, verabschiedet sich und geht in Richtung Haus auf dem Deich.
Im Januar 2017 ist Erich Butchereit in Rente gegangen. Die Fähre wird nun betrieben vom Amt Lenzen-Elbtalaue.
Zum Nachhören: Erich Butchereit im Interview (Auszug)
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