Er ist der letzte Fischer von Ungskär, einer entlegenen Insel im Schärengarten Südschwedens. Noch nie ist er in Stockholm gewesen. Doch Arne Nordström weiß mehr über die Welt als viele andere. Und er kennt den Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein.
Wer nach Ungskär kommt, wird an Arne Nordström kaum vorbeikommen. Das mag vor allem an seiner Statur liegen. Einsneunzig ist er, eher mehr. Seine Gummistiefel haben Größe 47. Und wenn Arne in seinem Fischerboot steht, wirkt es sehr klein, weil er so ein stämmiger Kerl ist. Alles ist gewaltig an diesem Mann. Seine Hände, sein Bauch, der Appetit, die buschigen Augenbrauen, der lange, wild und in alle Richtungen wachsende Vollbart, der mal pechschwarz gewesen und bald vollständig ergraut ist. Arne muss schon bärtig auf die Welt gekommen sein. Und es wäre untertrieben, zu behaupten, dass er nur eine leichte Ähnlichkeit mit Bud Spencer hätte, dem wuchtigen Italiener und Hau-Drauf-Schauspieler der 70er und 80er Jahre, dem Faustpfand einer ganzen Generation.
So wie es Bud Spencer noch heute kann, kann auch Arne seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen. Und dann sieht er nicht bloß so aus wie der Meister der senkrechten Faustschläge und Doppelbackpfeifen. Dann ist er ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Er könnte sein Sohn sein. Oder sein Double. Oder beides. Noch viel besser aber passt zu Arne, dass er sein eigenes Original ist. Denn jeder Bart ist natürlich nur so eindrucksvoll wie der Mann, der ihn trägt.
Arne sagt, er kenne Bud Spencer nicht. Er habe noch nie von ihm gehört. Doch wer nach Ungskär kommt, so viel steht fest, wird an Arne nicht vorbeikommen. Was aber auch an seiner roten Wollmütze liegt, die schon weithin sichtbar ist, bevor die kleine Fähre in das mit Granitblöcken eingefasste Hafenbecken einläuft. Von der See aus wirkt die Insel, als ob sie auf dem Wasser schwimmt. So flach ist sie. So wenig verstellt den Blick. Man sieht die Welt in Blau, dazu die dicht nebeneinander stehenden Holzhäuser, die in Schwedenrot gestrichen sind und alle weiße Fensterrahmen haben. Hier mal ein gelbes Haus, da mal eine grüne Hütte. Und davor steht Arne am Hafen.
Seine Mütze leuchtet als roter Punkt in der Landschaft, wie eine feste Wegmarke für Seeleute. Unübersehbar. Eigentlich müsste man einen Rahmen um diesen Mann bauen, denn das wird eines der Bilder sein, die man in seinem Kopf mitnehmen wird von dieser winzigen Insel im Schärengarten vor Karlskrona. Es ist ein Bild, das sich auch so schnell nicht ändern wird. Arne ist immer da. Und die Mütze so eine Art Markenzeichen. Er setzt sie nie ab. Auch im Hochsommer nicht. Arne sagt: „Ich mag rot.“
45 Minuten, so lange braucht das weißblaue Fährschiff für die Fahrt vom Festland durch den steinernen Irrgarten aus Inseln und Halbinseln. Es ist eine kurze Reise, die einen weit weg bringt. An Ytterön, Hästholmen und Öppenskär vorbei, dann Inlängan, Stenshamn und Utlängan. Es gibt tausende dieser Schären an der zerklüfteten Südküste. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Die Wenigsten sind bewohnt, manche nicht größer als Verkehrsinseln. Jede eine kleine Einsamkeit. Es ist eine windgepeitschte Landschaft hier draußen. Der Grund aus Granit. Vom Meer poliert. Schroff und schön. Mit grünen Moosen und gelben Flechten. Nur vereinzelnd ein paar Bäume und Büsche. Und alle Wege enden am Wasser.
Ungskär ist eine der letzten Inseln Schwedens. Oder eine der Ersten. Sie liegt im Dazwischen. Zwischen Schärengarten und offener See im Osten. Vom einen zum anderen Ende sind es vielleicht einen Kilometer, maximal 500 Meter geht es in die Breite. Meterhohe Wachholderbüsche wachsen in der Mitte. Knorrig. Dicht verzweigt und stachlig. Dazu wenige Birken im Norden. Vierzig Holzhäuser stehen auf dem schmalen Südzipfel. Dazwischen verläuft ein sandiger Fußweg. Das ist alles. Das ist Ungskär, wo mehr Katzen als Menschen leben. Dazu ein Fuchs, der vor einigen Wintern über das Eis gekommen ist und sich manchmal im Dorf blicken lässt. Rund fünfzig Saisonkühe von Mai bis Oktober. Und zehntausende Vögel, mindestens. Eiderenten, Graugänse und Kormorane. Austernfischer, Rotschenkel und Seeadler. Irgendwann hört man auf, die Vogelarten zu zählen. Wer aber einmal den tausendfachen Flügelschlag von Wildgänsen gehört hat, wenn sie aufgeschreckt abheben, wird das nie mehr vergessen.
Auf Ungskär fällt einem schnell auf, was es dort nicht gibt: Straßen und Autos. Einen Laden für das Nötigste. Schlechte Luft. Aufdringlichkeiten und Eile. Was es auf Ungskär gibt, ist: Zeit. Es passiert regelmäßig, dass man sich fragt, welcher Wochentag eigentlich ist. Die Tage machen Pause. Jeder Tag. Selbst der Wind hält in manchen Momenten den Atem an. Doch nicht wenige Menschen ertragen so viel Zeit heute noch. Auch die Ruhe ist anderswo knapp geworden oder ganz abhanden gekommen. Und so kann die große Stille, die eine kleine Insel wie Ungskär umgibt, für viele Besucher nach einer Weile schwer und anstrengend wie Getöse werden.
Die Fähre, die Vögel, die Menschen – auch wenn diese Schäre ein Ort ist, wo das Leben noch klar umrissen ist, wo alles seine Zeit zu haben scheint, soll dies keine Das-Ende-der-Welt-Geschichte werden. So etwas gibt es nämlich gar nicht. Und auch die heile Bullerbü-Bilderbuch-Welt oder das sorglose Lönneberga-Leben, das Journalisten gerne bemühen, wenn es um idyllisch gelegene, schwedische Dörfer mit dunkelroten Holzhäusern geht, wo alles fast schwerelos wie in der Kindheit sein soll, passen schon gar nicht hierher. Jeder hat mindestens ein Handy und auch Empfang auf Ungskär. Und Internet. Probleme gibt es auch genug. Es ist auch keine Rettungsinsel für sonderbare Leute, die sich vor der Welt verstecken. Es gibt hier Menschen, die vielleicht eigen, aber keine Außenseiter sind, die auf dem Festland zurechtkommen und von der Gesellschaft nicht aussortiert würden, weil sie gedanklich irgendwo anders sind. Wie Arne. Der sagt: „Langweilig wird mir hier nicht. Langeweile ist ein Luxusproblem.“
Es gab Zeiten, Ende des 19. Jahrhunderts, da lebten fast 500 Menschen auf der Insel. Viele Fischerfamilien. Bauern und Jäger. Im zweiten Weltkrieg kamen einige hundert Soldaten, um die Heimat vor den Nazis und den Russen gleichermaßen zu schützen. Es gab ein kleines Café und ein Kino im Dorf. Es muss eine – verglichen mit heute – wilde Zeit gewesen sein. Und es gab auch Jahre danach, in denen Ungskär militärisches Speergebiet war. Bis 1980 hatten Ausländer keinen Zutritt. Es wurden unterirdische Gänge gegraben, vollgestopft mit geheimen Anlagen. Kriegsschiffe fuhren in getarnte Felsgaragen, unter Netzen und Büschen versteckt. Arne erinnert sich noch gut an diese Zeit. Er erzählt von Scheinwerfern, die kilometerweit die Ostsee erleuchteten. Und wurde bei Übungen mit den riesigen Geschützen geschossen, gingen regelmäßig Fensterscheiben zu Bruch.
1955 war die Bevölkerung auf weit unter 100 geschrumpft. 1977 auf 30. 1995 dann 17. Bis 2011 waren es noch acht. Dann gingen Ulla und Allan. Sie starben. Dann May, die Witwe eines Fischers. Sie war zu alt für das Leben alleine geworden und starb zwei Jahre später in einem Altersheim. Jeder Mensch, der ein kleines Dorf verlässt, reißt ein Loch, weil er nichts mehr erzählt, weil in seinem Haus kein Licht mehr brennt. Und wenn auf Ungskär wieder jemand für immer geht, ist das so, als ob die Insel stirbt. Manchmal wurde, wenn ein Grundstück verkauft war, das ganze Haus abgeholt. Es wurde auf Baumstämmen über das Eis ans Festland gerollt. Oder man hievte das Eigenheim zwischen zwei Schiffe und fuhr es rüber, ans andere Ufer. Das war billiger, als neu zu bauen. Dafür kamen Menschen aus der Stadt und stellten sich neue Ferienhäuser hin. Ungskär wurde immer mehr zur Wochenendflucht.
Heute sind das ganze Jahr über noch fünf Menschen da. Da ist Bernt, 1944 hier geboren. Er wird auch hier sterben, wie er sagt. Da ist Johan, Jahrgang 1953. Und Kristina, Jahrgang 1948. Ihr Mann arbeitet als Tischler am Festland. Er kommt nur am Wochenende. Und Lars natürlich, Jahrgang 1934, den alle Lasse nennen. Er ist der einzige Zugezogene und Arnes bester Freund. „Morgen“, sagt er, „werden wir vielleicht noch vier sein. Nächstes Jahr zwei. Die Perspektive ist schlecht. Es gibt keine Arbeit. Es gibt nur Zeit. Das, was sich viele wünschen, aber nicht bekommen, weil Zeit ja Geld ist. Andere haben Geld und keine Zeit. Wir haben Zeit und kaum Geld.“ Das ist der Unterschied.
Arne ist noch nie bei Ikea gewesen. Noch nie ist er geflogen. Er hat auch nie Stockholm besucht. Einmal Göteborg. Einmal Kalmar. Einmal Kopenhagen. Alle fünf Jahre findet ein Lehrgang für Küstenfischer statt. Dort fährt er hin. Er war 18, als er seine Insel das erste Mal länger verließ. Weil er musste: Militärzeit in Karlskrona. Für neun Monate ans Festland. Er war froh, wieder zuhause zu sein. Zu seinem 60. Geburtstag luden ihn Freunde auf die große Passagierfähre ein, die von Karlskrona nach Gdingen in Polen fährt und sich zweimal am Tag in Sichtweite an Ungskär vorbeischiebt. Einen Tag hin, einen zurück. Wie das war? Schön“, sagt Arne, „aber ich war froh, wieder zuhause zu sein.“ Manchmal nimmt er sein Boot und besucht Bekannte auf Långören, einer der Nachbarinseln. Doch fragt man ihn, ob er auch mal nach Hamburg kommen wolle, wo es ja auch Wasser und einen schönen Hafen gebe, schüttelt er dankend den Kopf. „Wer kümmert sich dann um meine Katzen?“
Und dann ist der Moment gekommen, wo man Arne die Frage stellen muss, die nicht mehr zu umgehen ist: Warum sucht ein Mensch die Einsamkeit – nicht bloß kurz, sondern für das ganze Leben? Er weiß gute Antworten. „Langweilig wird mir hier nicht. Langeweile ist ein Luxusproblem“ ist eine davon. Und eigentlich muss man ihn auch nicht fragen, was er sich im Leben am meisten wünscht, sagt er selbst: „Noch so lange es geht, auf Ungskär zu sein.“ Mindestens bis er 80 ist, gerne bis 90. „Hier sterben, wäre auch schön.“ Lasse sagt über Arne: „Diese Schäre ist sein größter Schatz.“
Dies ist ein Textauszug. Lesen Sie die ganze Geschichte – auch wie Arne mal fast von einem sowjetischen Atom-U-Boot gerammt wurde – in Flaschenpostgeschichten. Von Menschen, ihren Briefen und der Ostsee.