Ein Fluss, ein Dorf, viele Störche, ein Gemüsegarten und das winzige Café von Anne Zinke – für viele ist dieser Platz an der Elbe in Sachsen-Anhalt ein Sehnsuchtsort, an den man sich immer wieder hinwünschen möchte. Für Anne ist es der Ort, an dem sie leben will. Ein Besuch am Deich.
Anne Zinke hat viele gute Gründe, diesen Ort zu mögen. Denn hier hat sie vieles von dem gefunden, wonach sie gesucht hat. Wenn sie zum Beispiel früh am Morgen schwimmen geht und der feuchte Atem der Wiesen aufsteigt und in dichten Wolken über der Elbe wabert. Wenn die Herbstsonne untergeht und die Bäume am anderen Ufer minutenlang in Flammen stehen. Oder wenn sie bei offenem Fenster im Bett liegt und es manchmal so klingt, als fließe die Elbe direkt durch ihr Schlafzimmer – im Frühling und Herbst muss sie manchmal das Fenster schließen, so laut sind die Massen an Zugvögeln dann. Die Anfang-40-Jährige sagt: „Der Fluss, die Tiere, das Dorf, der Deich, die Ruhe – dieser Ort nimmt das Tempo raus.“
340 Menschen leben in Wahrenberg. Es ist das letzte Dorf an der Elbe, bevor diese Sachsen-Anhalt verlässt und weiter nach Brandenburg und Niedersachsen fließt. Auch Mecklenburg-Vorpommern ist nicht mehr weit. Anne Zinke wohnt quasi in einem Vierländereck. Nur zwei Häuser stehen in Wahrenberg leer. Das ist in vielen Dörfern der menschenarmen Altmark, dieser sich scheinbar unaufhaltsam entvölkernden Region, ganz anders. Hier werden keine Dörfer mehr gegründet, hier sterben sie. In Wittenberge, gleich gegenüber auf der nördlichen Elbseite in der Prignitz, ist das genauso. Dort zählte man vor 30 Jahren noch 32000 Einwohner. Heute sind es 14000 weniger. Die Menschen flüchten vor der Perspektivlosigkeit in die großen Städte und hoffen, dort Arbeit und eine Zukunft zu finden.
Anne Zinke hat den anderen Weg gewählt. Die meiste Zeit ihres Lebens war sie in Berlin, dort ist sie geboren. Dort waren ihr aber auch irgendwann viel zu viele Menschen. „Diese Hektik hat zu viel Kraft gekostet“, sagt die Frau mit den blauen Augen und den halblangen, braunen Locken. Als ihre Tochter geboren wurde, wollte sie aufs Land ziehen. Doch es dauerte noch vier Jahre, bis etwas Passendes gefunden war. Sie las eine Annonce in der Zeitung: Ehemaliger Fährgasthof sucht Mitbewohner. 2006 war das.
Heute leben fünf Erwachsene und drei Kinder auf dem Elbehof, wo auch Trommelkurse und Rhythmustheater, Naturerlebnisse und Umweltbildung für Schulklassen und Jugendgruppen angeboten werden. Anne Zinke leitet Englischkurse für Erwachsene und Kinder. Zweimal die Woche unterrichtet sie an einer Grundschule in der Gegend. Und seit fünf Jahren hat sie ein winziges Café, das mitten auf dem Elbdeich steht. Dort serviert sie selbstgebackenes Brot, Pfannekuchen und Gnocchi, Kichererbsensuppe, Kuchen und Salat. Früher war das Häuschen – das kaum mehr als acht Quadratmeter und nur einen Raum hat – die Bleibe des Fährmannes. Bis 1979 pendelte hier noch eine Autofähre, dann wurde einige Kilometer stromaufwärts eine Brücke gebaut.
Anne Zinke erinnert sich noch gut an einen Tag vor drei Jahren: Der weit über 80 Jahre alte Fährmann kam in seinem Rollstuhl vorbei. Er wollte sehen, was in seinem Häuschen, in dem er sein halbes Leben verbracht hatte, heute geschieht. Er ging hinein und sah sich um. Als er einige Minuten später herauskam, nickte er kurz. Es war wie eine Segnung. Drei Monate später starb er. Der Fährmann war es auch, der die Bruchweide gepflanzt hatte, die heute neben dem Haus steht und 70 Jahre oder älter ist. Im Nebel hatte er nichts gesehen. Er brauchte einen Orientierungspunkt an Land und pflanzte den Baum. Die mächtige Weide lässt das Café noch kleiner wirken. Sie hält aber auch schützend ihre Äste über das Fachwerkhäuschen, das Anne Zinke in diesem Jahr renoviert hat. Roter Backstein außen, braune Lehmwände innen. Ein neuer Holzfußboden. Schon bald soll ein Holzofen den Raum auch an kalten Tagen gemütlich machen. Bislang hatte sie täglich von Anfang Mai bis Ende August geöffnet. Erstmals will sie nun auch von September bis April Gäste empfangen – immer samstags und sonntags.
Anne Zinke hat ihr Café Anne~Elbe genannt. Eine kleine Welle verbindet die beiden Namen. Und einmal ist sie von einer Besucherin gefragt worden, ob sie Frau Elbe ist. Anne Zinke mag diese kleinen Momente und Begegnungen, von denen sie hier auf dem Deich so viele hat. Denn der von Špindlerův Mlýn im Riesengebirge bis nach Cuxhaven mehr als 1200 Kilometer lange Elberadweg verläuft unmittelbar am Café entlang – Elbkilometer 459,5. Auch wenn auf dieser – der linkselbischen – Seite weit weniger los ist als nördlich des Flusses, sind immer noch viele Wochenendausflügler unterwegs, und auch die täglichen Fahrradtouristen werden mehr.
„Sie alle bringen Geschichten mit“, sagt Anne Zinke, „man kommt hier sehr schnell ins Gespräch. Die Leute sind entspannter, die Begegnungen intensiver.“ Und irgendwann laufen ihre Gäste dann staunend durch den Obst- und Gemüsegarten hinterm Deich. Dort wachsen faustgroße Tomaten, Bohnen und Kürbis, Salate, Pflaumen und Gurken. Zucchini und Holunder. Diverse Äpfel- und Birnensorten. Maulbeeren, Rhabarber und Mangold. Verschiedenste Kräuter. Pak Choi, Spargel und Topinambur. Nur die Eier und Milchprodukte, das Mehl und die Pilze werden zugekauft. Anne Zinke kocht und backt alles selbst, Standardware gibt es bei ihr nicht. „Und die Besucher nehmen ein gutes Gefühl mit“, hofft sie. Eine Frau, die häufiger zu Gast ist, hat ihr kürzlich verraten, warum sie immer wieder kommt: Weil es zum Kaffee warme Milch gibt – das würde es nirgends sonst in der Gegend geben. Und auch ein Mann aus Hamburg ist mittlerweile zum Stammgast geworden. Er fährt die Strecke nach Wahrenberg und zurück regelmäßig mit dem Fahrrad – 360 Kilometer an einem Tag.
In Wahrenberg kann man sich schnell wie in einem Bilderbuch fühlen, was vor allem an den Weißstörchen liegt, die jedes Jahr von Anfang April bis Ende August in ihren wagengroßen Horsten die Giebel und Schornsteine der Fachwerkhäuser bevölkern. 16 Storchenpaare waren es in diesem Jahr. Auf den umliegenden Feuchtwiesen finden sie ausgiebig Frösche, Insekten, Würmer und andere Leckereien. Einzig gegenüber, auf der anderen Elbseite im brandenburgischen Rühstädt, leben noch mehr Störche in Deutschland. Das aber hören die Wahrenberger nicht so gerne. Sie nennen sich gerne „Das Storchendorf“. Ein Zusatz, der wirkt: Viele Tagestouristen kommen der Vögel wegen. In manchen Vorgärten hat man Tafeln augestellt, die über die klappernden Hausbesetzer informieren, wann diese – auf den Tag genau – angekommen und abgeflogen sind, wie viele Jungvögel es in jedem Jahr waren.
Doch nun ist es wieder ruhig geworden in Wahrenberg – die Störche sind weg. Zwei Tage zuvor sind sie abgeflogen, aufgebrochen in ihre Winterquartiere nach Spanien und Afrika. Viel früher als sonst. „Mit den Störchen verabschiedet sich immer auch der Sommer“, sagt Anne Zinke und blickt Richtung Himmel, wo sich schmutziggraue Wolken ineinanderschieben. Und auch die Blätter der Pappeln werden schon gelb.
Kurz bevor sie heute schließt, kommt noch ein Nachbar aus dem Dorf vorbei, Herr Kloth. Er sitzt regelmäßig bei ihr an den Tischen auf dem Deich. „Es ist alles ruhig“, murmelt er und meint die fehlenden Störche. Er wirkt fast traurig. Dann bestellt er ein Tässchen Kaffee und ein Stück Pflaumenkuchen. Früher hatte Wahrenberg drei Gaststätten. Heute gibt es nur das Café. Viele würden das kleine Haus am großen Fluss wohl einen Sehnsuchtsort nennen, einen Platz, an den man sich immer wieder hinwünschen möchte, wenn man denn könnte. Und auch Herr Kloth sagt in seiner ehrlichen und eher knappen Art: „Es ist schön hier.“ Man muss auch nicht viele Worte machen an diesem Ort, der seine eigene Wirkung hat. Anne Zinke sitzt daneben und sagt nichts. Sie sieht zufrieden aus.