Mehrmals die Woche fährt Michael Abendroth auf eine unbewohnte Insel, die mitten in Bremen liegt. Niemand sonst darf das Eiland betreten. Der Endsechziger kümmert sich dort um eine Ziegenherde. Über 30 Flaschenpostbriefe hat er bereits gefunden, aber auch viele hunderte Säcke Müll gesammelt. Zu Besuch auf einer Stadtinsel in der Weser.
Die Stadt hat sich entfernt. Wer es nicht wüsste, würde hier nicht Bremen vermuten. Als hätte jemand den Ton leise gedreht, sind die Hafengeräusche jetzt nur noch gedämpft zu hören. Sie werden von den Gräsern und den Blättern der Bäume überrauscht. Es ist eine ungewohnte Stille mitten in der Großstadt. Der Lärm, die Straßen, die Häuser, die Menschen – sie sind woanders, weit weg, drüben auf der andere Seite des Flusses.
Die Bremer nennen die Insel „Die Insel“. So steht es auch in jedem Stadtplan: Die Insel. Das schmale, lang gezogene, acht Hektar große Stück Land liegt im Hafengebiet, mitten im Strom der Weser, rund 300 Meter sind es bis zum Festland. Als Mitte der 60er Jahre der Neustädter Hafen gebaut wurde, lies man die heutige Insel als Strömungsschutz stehen – so wurde das Land zum Eiland. „Zu einem besonderer Ort“, wie Michael Abendroth findet. Denn fast 40 Jahre lang blieb die Flussinsel sich selbst überlassen. Sie überwucherte fast vollständig.
Es gibt ein kleines Waldstück, bestanden mit Silberpappeln und Weiden. Die Natur ist ungestört. Seifen- und Johanniskraut blühen hier. Und niemand würde zögern, diesen Flecken Erde einen schönen Ort zu nennen. Es stehen aber auch Schilder auf der Insel: Achtung Zecken. Betreten verboten. „Die Insel und die Stadt“, sagt Michael Abendroth, „das sind zwei Welten. Manchmal vergesse ich hier, dass ich mitten in Bremen bin. Es ist ein starker Kontrast.“ Der fast 70-Jährige mag diesen Perspektivwechsel. Es ist ein Wechsel in die Wildnis – in weniger als zehn Minuten. So lange dauert die Überfahrt in dem kleinen Boot mit dem Fünf-PS-Außenbordmotor. „Und jedes Mal ist es ein kleines Abenteuer. Ich bin ja ganz auf mich allein gestellt.“ Mindestens zweimal in der Woche muss Michael Abendroth rüber zu seinem Kontrollgang. Je nach Wasserstand, zu jeder Jahreszeit. Er ist Naturschützer, ein Freund der Erde, wie es der Bund für Natur und Umweltschutz – kurz BUND – gerne nennt.
Der Mann mit den buschigen Augenbrauen und den grauen Haaren ist ein eher ruhiger Zeitgenosse. Auf Fragen, die er für überflüssig hält, antwortet er nicht. Er trägt eine Schirmmütze mit dem Aufdruck BUND. Mehr als 20 Jahre ist er im Umweltschutz aktiv. Zunächst ehrenamtlich, dann fest angestellt, seit zweieinhalb Jahren als engagierter Rentner. Er kann das Projekt mit den Ziegen nicht einfach so abgeben, es ist ihm ans Herz gewachsen. Es war seine Idee. Seit sechs Jahren lebt eine kleine Herde auf der Insel, zurzeit sind es zehn Tiere – so genannte Kaschgora-Ziegen mit langen, teils geschwungenen Hörnern und einem weißen, dichten Fell. Eine Kreuzung aus Kaschmir-, Angora- und Deutscher Weißer Edelziege.
Der Bremer Landesverband des BUND und die Wirtschaftsförderung Bremen (WFB) haben ein in Deutschland einmaliges Projekt ins Leben gerufen: Die robusten, aber wasserscheuen Tiere sind das gesamte Jahr über auf der abgelegenen Insel. Es gibt keine Zäune. Sie können sich frei bewegen. Der Fluss ist die natürliche Grenze. Und das natürliche Nahrungsangebot ist riesig. Was anderswo Probleme schafft, ist hier gewollt: Die Ziegen halten die Vegetation weitgehend niedrig. Das schafft Platz für Brutvögel, die offene, sandige Flächen mögen. Es fördert die Vielfalt. Brandgänse, Graureiher, Schnatterenten. Austernfischer und Nilgänse, seltene Heuschrecken und Schmetterlinge – ein Lebensraum für bedrohte Arten wird mit Hilfe der tierischen Landschaftspfleger geschaffen und erhalten. Und Michael Abendroth kommt regelmäßig, damit die Ziegen nicht vergessen, dass es auch Menschen gibt, dass sie nicht komplett verwildern.
Wer auf der Insel steht, sieht zwei Seiten der Stadt, die nicht zueinander passen wollen: Im Hintergrund sind Hafenkräne, Containerschiffe und die Bremer Silhouette mit dem Fernmeldeturm zu sehen. Im Vordergrund stehen die scheuen Ziegen – grasen und gucken. Als Michael Abendroth das erste Mal auf die Insel kam, war das Ufer übersät mit Müll. Mehr als 400 blaue Säcke haben die Umweltschützer damals gefüllt. Und regelmäßig muss er heute noch den Müll sammeln, den das Hochwasser auf die Insel spült, den die Wellen in die Steinschüttung ans Ufer schmeißen. 80 Säcke sind es allein in den letzten zwölf Monaten gewesen. Sie liegen abholbereit nahe des Anlegers. „Und das ist nur ein Bruchteil dessen, was in der Weser schwimmt. Man mag sich gar nicht vorstellen, was alles weiter in die Nordsee treibt.“
Das Meiste ist Plastikmüll. Aber auch Spielzeug, Schuhe oder Stühle sind dabei. „Alles was der Haushalt, die Verpackungsindustrie und der Hafen an Müll hergeben.“ Oft findet Michael Abendroth auch ungewöhnliche Gegenstände. Ein Schild mit der Aufschrift Rosen-Allee zum Beispiel. Oder Briefe in Flaschen. Mehr als 30 hat er bereits aufgelesen. Von Frischverliebten, Kindern oder gelangweilten Anglern, die alle der romantische Gedanke einer Flaschenpost verbindet. Eine der Nachrichten schaffte es sogar aus dem Weserbergland bis nach Bremen. Mehr als 200 Kilometer war sie getrieben. Die meisten Flaschenpostbriefe aber legen bloß wenige Meter zurück. Sie werden in Sichtweite – in Stadtteilen wie Gröpelingen, Walle oder Woltmershausen – in die Weser geschmissen. „Zu Beginn habe ich den Absendern noch geantwortet“, erzählt Abendroth. Mittlerweile lässt er das – „die Leute sind dann bloß enttäuscht, weil die Flasche nur ein paar Meter geschwommen ist“.
In den letzten sechs Jahren ist Michael Abendroth nur für wenige Tage im Urlaub gewesen, was an den Ziegen liegt. Er hat keine Zeit für große Reisen. Doch so richtig stören, tut ihn das gar nicht. Denn was, wenn nicht eine Insel, die nur von Ziegen bewohnt und von einem einzigen Menschen besucht wird, könnte besser als Inbegriff der Abgeschiedenheit und Ruhe gelten? Viele hunderte Male ist er die Strecke bereits gefahren. „Und in manchen Momenten ist es noch immer wie ein Kurzurlaub – trotz der Routine. Ich genieße das.“ Er sagt aber auch: „Es ist keine Ausflugsfahrt.“ Dies zu betonen, ist ihm wichtig. „Im Winter bei minus fünf Grad und Ostwind ist das gar nicht mehr lustig.“ Und im Sommer können auch auf der Weser riesige Wellen wie aus dem Nichts auftauchen. „Dann denkst du, du bist vor Helgoland.“
Michael Abendroth sitzt nun wieder in seinem Boot. Der Motor knattert. Eines der großen, flachen Binnenschiffe schiebt sich gemächlich heran und vorbei. Auch der Wechsel zurück – von der Insel an Land – ist für ihn wie der Gang durch eine Schleuse. Die Stadt rückt spürbar näher: Die Deiche werden höher. Die Möwen werden frecher. Die Geräusche werden lauter. Michael Abendroth legt an, stellt den Motor aus und ist zurück an Land – zurück aus der Bremer Wildnis.
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