Helmut Krauss ist ein Pionier unter den Weinbauern. Vor 30 Jahren kehrte er zum ökologischen Anbau zurück. Er war der erste deutsche Winzer in der Türkei. Und heute haben seine Weine ein abgelegenes türkisches Bergdorf zu einem der beliebtesten Ausflugsziele für Touristen gemacht.
Helmut Krauss sieht nicht aus wie jemand, der das Risiko liebt. Er hat rotblonde Haare und einen kleinen Bauch, trägt eine Brille und einen roten Pullover mit weißen Streifen. Auch sein Gesicht neigt etwas zur Röte. Sein monoton pfälzischer Singsang lässt den über 60-Jährigen eher unaufgeregt und bodenständig wirken, wie jemand, der seine Heimat nicht so gerne verlässt. Doch in Helmut Krauss kann man sich täuschen. Die Geschichte von Helmut Krauss, dem deutschen Winzer aus Rheinland-Pfalz, und Sirince, dem türkischen Dorf im Hinterland der Ägäischen Küste, klingt vielleicht auch deshalb ein bisschen mehr wie ein Märchen.
Acht Kilometer windet sich die staubige Straße in Serpentinen von der Kleinstadt Selçuk hinauf. Sirince liegt so versteckt zwischen mit Feigen- und Pfirsichbäumen bewachsenen Hügeln, Olivenhainen und Weinbergen, als hätte man es vergessen. Bei klarer Sicht kann man über das Meer bis nach Europa gucken, dann zeichnen sich die Berge der griechischen Insel Samos deutlich am Horizont ab. In Sirince aber lebt heute jeder der 600 Menschen vom Tourismus. Vor zehn Jahren war das noch anders: Damals gab es nicht mehr als eine handvoll kleiner Läden, die Hausweine und Olivenöl in Plastikflaschen verkauften. Das Bergdorf war allenfalls ein Geheimtipp unter türkischen Touristen.
„Die Türkei“, sagt Helmut Krauss, „ist für mich von Anfang an ein großes Abenteuer gewesen. Ich habe nichts über das Land und die Kultur gewusst.“ Im Urlaub fängt alles an. Gemeinsam mit seiner Frau reist er 1994 das erste Mal nach Izmir und weiter an die Strände südlich der Dreimillionenstadt. Als ein türkischer Freund von einem abgelegenen Dorf im bergigen Hinterland erzählt, machen sie einen Tagesausflug. Helmut Krauss probiert die Fruchtweine der Bauern und ist begeistert. Er erkennt schnell das Potenzial – die fruchtbaren Böden, das milde Klima und die stetig hohe Luftfeuchtigkeit durch die Nähe zum Meer sind wie geschaffen für den Weinbau. „Die Idee, türkische Weine nach deutschem Vorbild auszubauen, war schnell geboren“, erzählt er. Bis es allerdings soweit sein würde, sollten noch Jahre vergehen.
Lange ärgert er sich mit der türkischen Bürokratie herum. Genehmigungen aus Ankara müssen besorgt werden. Gemeinsam mit zwei türkischen Teilhabern pachtet er schließlich eine leer stehende Olivenfabrik, gleich am Eingang des Dorfes. Er beginnt mit dem Aufbau der Kellerei. Maschinen werden aus Deutschland gebracht, Rebstöcke werden gepflanzt. Helmut Krauss ist der erste deutsche Winzer in der Türkei.1999 keltert er den ersten Jahrgang, einen Fruchtwein aus Heidelbeeren. „Die Türken lieben süße Desserts“, erzählt er. So ist ihm von Anfang an klar, dass auch süße Weine bevorzugt werden. Er arbeitet mit den Obstbauern zusammen, kauft ihre Ernten. Pfirsiche, Granatäpfel, Heidelbeeren und Brombeeren für die Fruchtweine, rote und weiße Trauben für die trockenen Qualitätsweine.
Einheimische Reben wie Öküzgözü und Boğazkere sind milde rote Sorten mit ausgeprägten Beerenaromen, Sorten wie Emir und Sultaniye bringen lebendige Weißweine mit vollen Pfirsich- und Mandarinennoten. Es geht aber nur schleppend voran, es muss viel improvisiert werden. Immer wieder behindern neue Gesetze und überhöhte Alkoholsteuern die Produktion. Vier weitere Jahre verstreichen, bis das Experiment zum Erfolg wird. Mit 30.000 Litern hat er angefangen, erzählt Helmut Krauss, heute sind es 800.000 Liter, Tendenz steigend. „Das Trinkverhalten verändert sich nicht von heute auf morgen, wir haben Zeit gebraucht“, weiß er, „und vor allem die jungen Türken entdecken mittlerweile den Wein als Genussmittel.“
Eingehüllt in Decken sitzen Frauen mit Kopftüchern im Morgenschatten der Moschee und stricken Handschuhe in abenteuerlichen Farben. An ihren Ständen verkaufen sie Olivenöl, Feigen, Marmelade, Honig, Kräuter und allerlei Zeugs für Touristen. Wenn der Wind durch die engen Gassen bläst, fangen die bunten Röcke und Oberteile, die auf Kleiderbügeln an den Markisen hängen, zu tanzen an. Der Duft von frischem Brot mischt sich mit süßlichem Qualm, viele im Dorf heizen mit Pfirsichholz. Heute steht Sirince mit seinen strahlend geweißten Häusern und den roten Ziegeldächern unter Denkmalschutz. Der Ort hat sich als das Weindorf der Türkei einen Namen gemacht. Früher kamen 200 Besucher am Tag, heute sind es 2000.
Wenn Helmut Krauss in seiner Jack-Wolfskin-Jacke durch das Dorf geht, sieht auch er aus wie einer der Touristen, die vom malerischen Sirince und dem guten Wein gehört haben. Auch er muss an jeder Ecke anhalten und viele Hände schütteln. Doch ihm will niemand etwas verkaufen. Jeder kennt ihn, jeder weiß, dass der Wein des deutschen Winzers den Ort türkeiweit bekannt gemacht hat. „Unser Dorf ist aufgewacht“, sagt auch Bürgermeister Levent Apak, „heute können hier alle vom Tourismus leben. Eine unglaubliche Entwicklung.“ Doch Helmut Krauss hört es nicht so gerne, dass ausgerechnet ihm es zu verdanken ist, dass Sirince nun neben den antiken Tempelruinen von Ephesus als Ausflugsziel in den Programmen der Reiseanbieter gepriesen wird. Er sagt: „Mir ist es schon zu viel, dass auf jedem Etikett mein Name steht.“
Helmut Krauss ist zurück nach Deutschland geflogen. Das Zellertal liegt westlich von Worms im Nordpfälzer Bergland. Etwas südlich endet in Bockenheim die Deutsche Weinstraße. Nur wenige Touristen aber schaffen es noch weiter auf einen Abstecher nach Zell, dem ältesten Weindorf der Pfalz, das eingerahmt zwischen Weinbergen und Höhenzügen liegt. „Noch sind wir ein Geheimtipp“, sagt Helmut Krauss. Dabei hat das Zellertal ein fast schon mediterranes Klima. Der rund 700 Meter hohe Donnersberg schließt das Tal nach Norden ab und hält den Regen weg. Über 40 Weingüter gibt es in der Region. Auch Mandeln, Feigen und Lavendel wachsen hier.
Helmut Krauss ist nicht nur in der Türkei ein Pionier, auch in seiner pfälzischen Heimat ist er schon früh andere Wege gegangen. 1982 übernahm er das elterliche Weingut in die vierte Generation. Viele Winzer starben in dieser Zeit an Krebs, „auch bei uns in den Dörfern, auch mein Vater“, erzählt er. Heute weiß man, dass sich die Weinbauern zu Tode gespritzt haben. Es waren die 60er und 70er Jahre, als man in der Landwirtschaft auf chemische Spritzmittel umstellte – für einen besseren Ertrag und zu Lasten der Gesundheit. „Die Winzer haben das voll abgekriegt“, sagt Helmut Krauss, „für mich aber war klar, dass ich mich nicht vergiften wollte.“ Als sein Vater starb, stand der Entschluss fest: Keine Chemie mehr im Wingert.
Als einer der ersten deutschen Winzer kehrt er zum ökologischen Weinbau zurück. Er verzichtet auf Pestizide, setzt Nützlinge wie Raubmilben gegen Schädlinge wie die Rote Spinne ein. Er lässt Kräuter und Wildpflanzen wie Weinbergkresse oder Löwenzahn zwischen den Rebstöcken stehen. Selbst Schnecken dürfen leben. Und er pflanzt Gelbsenf und Ölrettich, die mit ihren Wurzeln den Boden zusätzlich lockern. Es sind die frühen Achtziger, im Dorf und in den Nachbargemeinden schütteln seine Kollegen mit den Köpfen. Für sie steht schnell fest: „Der Helmut geht mit seinen Weinen baden.“ Doch die Ökotrauben reifen genauso prall wie in anderen Weinbergen auch, und nicht nur das: Nach vier Jahren hat sich das natürliche Gleichgewicht des Wingerts wieder hergestellt. „Weniger Schädlinge, weniger Pilzbefall, generell weniger Krankheiten“, fasst Helmut Krauss zusammen, „die Natur hilft sich sehr schnell selbst, wenn man sie in Ruhe lässt.“ Fünf Hektar umfasst sein Gut heute, auf denen ein Dutzend Sorten gedeihen, mehr weiße Trauben wie Kerner, Grauburgunder oder Müller-Thurgau, aber auch rote Reben wie Portugieser, Dornfelder oder Spätburgunder.
Helmut Krauss steht in einem seiner Weinberge zwischen Chardonnay und Riesling. Er begutachtet die Rebstöcke, die in voller Blüte stehen. Wenn die weißen Käppchen abfallen, wird es noch knapp 100 Tage bis zur Ernte dauern. Vor zwei Jahren hat er in den Wingert nebenan 60 Olivenbäume gepflanzt. Er hatte sie aus Sirince mitgebracht. Doch dann folgten zwei bitterkalte Winter, die kaum ein Baum überlebte. „Wir werden Geduld brauchen“, sagt Helmut Krauss in seiner ruhigen Art. So schnell wird er nicht aufgeben. Er sagt: „Das ist schon immer so gewesen, und das wird auch mit den Oliven so sein.“ Und so klingt auch sein nächstes Projekt ein wenig wie ein Märchen: Olivenöl aus Zell. Sollte das irgendwann einmal wahr werden, wäre auch das pfälzische Winzerdorf sicher kein Geheimtipp mehr.
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