Seine Aufnahmen sind wie Geschenke, die ihm die Natur macht. Marc Lubetzki ist Tierfilmer und lebt in Schleswig-Holstein. Nun wird er sich ein ganzes Jahr lang fast täglich auf ein Feld in eine Hecke setzen, um die Tierwelt vor seiner Haustür zu filmen. Er sagt: „Wenn die Zuschauer erkennen, wie schön das eigene Land ist, habe ich mein Ziel erreicht.“
Berlin liegt mitten in Schleswig-Holstein. Knapp 500 Menschen leben in dem winzigen Dorf zwischen Lübeck und Kiel. Die südlichen Ausläufer des Naturparks Holsteinische Schweiz sind eine Gegend mit vielen Seen, wenigen Orten und sehr viel Landwirtschaft. Im Sommer halten oft Touristen auf ihrer Reise an die Ostsee am Ortseingang, um ein Erinnerungsfoto von sich mit dem Schild zu machen. Doch jetzt, im Februar, ist es im ohnehin schon ruhigen Berlin noch stiller als sonst.
Es ist kurz nach halb acht am Morgen. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen. Fährt man am Kurfürstendamm und Unter den Linden vorbei – die Straßen heißen hier wirklich so – und biegt man gleich hinter dem Potsdamer Platz zweimal rechts ab, erreicht man den Bauernhof der Lubetzkis. Mit einer Kamera in der Hand kauert Marc Lubetzki gerade auf dem Boden vor der Scheune. Er nutzt das warme, weiche Licht des Sonnenaufgangs und filmt Vögel. Es hat einige Grad unter null. Es pfeift ein eisiger Wind. Doch der 40-Jährige könnte jetzt nicht gemütlich beim Frühstück sitzen und den Tag langsam angehen lassen. Dafür ist das Licht viel zu gut. Der Wecker hatte bereits um kurz nach fünf geklingelt. Seit sechs, weit vor der Morgendämmerung, ist er am Arbeiten.
Marc Lubetzki ist Tierfilmer. Und er ist ein eher bedächtiger Mann mit blauen Augen und sanfter Stimme, der man gerne zuhört. Der gebürtige Hamburger spricht unaufgeregt und wählt seine Worte mit Sorgfalt. Er passt ins kleine Berlin zwischen den Meeren. Er sagt, es dauert lange, sehr lange, bis sein Geduldsfaden mal zu reißen droht. „Alle Tierfilmer, die ich kenne, sind eher ruhige, nachdenkliche Typen. Wer nicht geduldig und ausdauernd ist, kann diesen Job nicht machen.“ Die Wochen zuvor war er im Snowboardanzug und dicker Felljacke bei bis zu minus 15 Grad auf den umliegenden Feldern unterwegs gewesen. Er hatte Verstecke für die bevorstehenden Dreharbeiten gesucht.
Das gleißende Morgenlicht überschwemmt jetzt die Äcker. Es ist flach hier im Norden Deutschlands, kaum etwas verstellt den Blick. Und als Marc Lubetzki hinter seinem Hof in Gummistiefeln am Feldrand entlang stapft und sein neues Versteck zeigen will, gerät er ins Schwärmen. „Du brauchst bloß um die Ecke gehen und bist mitten in der Natur. Wenn es nur eine Region geben würde, in der ich filmen dürfte, würde ich Schleswig-Holstein wählen. Es gibt hier so viele Themen, dass ich bis an mein Lebensende drehen könnte.“ Über 200 Naturschutzgebiete liegen zwischen Nord- und Ostsee. Auf der Suche nach Drehorten ist Marc Lubetzki ein ganzes Jahr durch Schleswig-Holstein gefahren. Dann hat er sich für ein scheinbar unscheinbares Thema entschieden: Die Knicks vor der eigenen Haustür.
„Das klingt erst mal nicht so aufregend“, sagt er selbst. Für einen Tierfilmer aber kann so ein Knick ein kleines Paradies sein. Knicks werden die künstlich angelegten, vielleicht einen Meter hohen Erdwälle genannt, die Felder und Wiesen voneinander trennen. Sie sind mit Sträuchern und Gras, mit Büschen und Bäumen bewachsen. Es sind lebende Zäune. Und sie sind typisch für das Landschaftsbild Schleswig-Holsteins. Ein Netz von 45.000 Kilometern durchzieht das nördlichste Bundesland. „Knicks werden unterschätzt“, sagt Marc Lubetzki, „dabei sind es perfekt funktionierende Ökosysteme, die unter Naturschutz stehen.“ Seeadler, Turmfalke und Füchse, Rehe, Feldhasen und Wildschweine – rund 7000 Tierarten leben darin. Doch das wissen die wenigsten. Deshalb wird sich der Tierfilmer nun ein ganzes Jahr Zeit nehmen und das Leben im Knick dokumentieren. Nur eineinhalb Kilometer von seinem Hof entfernt hat er sich ein Tarnversteck in einer etwas breiteren Wallhecke eingerichtet.
Auf dem Weg dorthin erzählt er, wie es für ihn angefangen hat mit dem Filmen von Tieren. Alles begann mit einer Ausbildung bei der Post. Doch schnell merkte er, dass die Arbeit als Schalterbeamter nichts für ihn war. „Ich fühlte mich eingesperrt wie in einem Käfig.“ Als er in einem Urlaub in der Osttürkei aber zum ersten Mal auf dem Rücken eines Pferdes saß, machte es Klick. Plötzlich wusste er, was er wollte: „Ich wollte etwas mit Tieren machen.“ Er lernte Sattler. Und er beobachtete die Pferde immer genauer. Er machte Bewegungsanalysen, um die Sättel individuell für jedes Tier fertigen zu können. Dafür drehte er erste Videos und erkannte dabei sein eigentliches Talent. Schon als Kind hatten ihn die Tiersendungen mit Heinz Sielmann oder Bernhard Grzimek, der von „possierlichen Tierchen“ berichtete, beeindruckt. Und nun fing er mit Lehrfilmen für Reiter an, die ohnehin seine Kunden waren. Er machte Online-Seminare, begleitete Regisseure und tauschte sich mit Tierfotografen und Naturfilmern aus. Nach acht Jahren als filmender Sattler sattelte er um.
Trotz Tarnnetz ist das Versteck mit dem kleinen, camouflagefarbenen Zelt, in dem er Isomatte, Decke und Werkzeug aufbewahrt, zwischen den kahlen Pfaffenhütchen und Erlen auch auf große Entfernung noch gut zu erkennen. Doch schon in einigen Wochen, wenn die Büsche und Bäume grün werden und das Leben wieder mehr und mehr zurückkehren wird, wird dieser Platz ein guter Unterschlupf sein. Fast täglich will er dann mit seiner Kamera hier sitzen und warten. Zurzeit laufen die Vorbereitungen. 14 Tage schon hat er Probeaufnahmen gemacht. Die Tiere sollen sich langsam an ihn gewöhnen können. Das Versteck bietet gute Möglichkeiten: Die meiste Zeit des Tages wird er die Sonne im Rücken haben. Er wird aus einer Senke filmen, was für den Zuschauer eine ungewohnt niedrige Perspektive ist. Wenn die Tiere dann über oder auf dem Erdwall laufen, wirkt das so, als betreten sie eine Bühne.
Der Film soll einen Tag im Knick dokumentieren. Von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Marc Lubetzki hofft, dass er nach einem Jahr Material für 45 Minuten gesammelt haben wird. Wo sein Film laufen wird, weiß er noch nicht. Einen Auftraggeber hat er nicht. Er ist Kameramann, Drehbuchautor und Regisseur, Cutter, Texter und Produzent. Und er ist überzeugt, dass die Bilder, die er einfangen wird, so interessant sein werden, dass er auch einen Abnehmer finden wird. Marc Lubetzki weiß, dass er nie die technischen und finanziellen Möglichkeiten einer BBC-Produktion haben wird, und das stört ihn auch gar nicht. Es müssen keine Hightech-Aufnahmen sein, die pausenlos die wunderschönsten Naturphänomene zeigen. Er möchte beim Wettlauf der namhaften Tierfilmer, die mit ihren Kameras regelrecht besessen auf die Jagd nach noch nie da gewesenen Bildern von bislang noch nie gefilmten Tieren gehen, nicht mitmachen. Er hat einen anderen Ansatz: „Ich möchte die Natur vor der Haustür zeigen und den Blick auf die heimische Umgebung schärfen. Wenn der eine oder andere Zuschauer erkennt, wie schön das eigene Land ist, habe ich mein Ziel erreicht. Denn was man liebt, das schützt man auch.“
An diesem Vormittag taucht ein Rudel Rehe in einiger Entfernung auf und verschwindet gleich wieder. Marc Lubetzki holt sein Fernglas hervor und beobachtet eine kleinere Gruppe Graugänse, die schnatternd vorüberzieht. Das war es auch schon. Am Ende wird er nach Hause gehen, ohne eine Minute gefilmt zu haben. „Solche Tage gibt es“, sagt er, „nicht selten.“ Dennoch wird er die Tiere nicht mit Futter locken, um an seine Bilder zu kommen, so wie es manche seiner Kollegen tun. Das wäre ihm ein zu großer Eingriff in die Natur. Auch wenn er viele Tage hintereinander kein Tier vor die Linse bekommt.„Mehr als 90 Prozent der Zeit passiert gar nichts“, erzählt er. Ein Satz, der nachklingt. 90 Prozent des Tages: WARTEN. Im Sommer von morgens um drei bis abends um elf. Im Winter von sechs bis in den Nachmittag. 14 Stunden ohne zu pinkeln, sind kein Problem.
„Der Tag ist immer viel zu kurz“, sagt er. Und man fragt sich, wie er das aushält bei Minusgraden stundenlang hier draußen in seinem Versteck zu sitzen, keinen Laut von sich zu geben und einfach bloß zu warten. „Ich genieße es“, erklärt er, „wenn ich einen ganzen Tag alleine in der Natur sein kann, ist das doch wunderbar.“ Und dann sind da ja auch noch die verbleibenden zehn Prozent, die ihn für die Ewigkeit des Ausharrens entschädigen. Und wenn er dann durch den Sucher seiner Kamera blickt, sieht er das schöne Leben. Seine Aufnahmen sind wie Geschenke, die ihm die Tiere machen, sagt Marc Lubetzki, der es sich angewöhnt hat, sich nach jedem Dreh bei den Tieren zu bedanken. „Das“, sagt er, „ist ein Zeichen des Respekts.“
Marc Lubetzki hat Wüstenelefanten in Namibia gedreht, Rentiere in Skandinavien und Wildpferde in Österreich, Dänemark und Frankreich. In lebensbedrohliche Situationen ist er dennoch nie geraten. Auch weil er den Tieren zurückhaltend begegnet. „Man braucht ein Gespür dafür, wann man sich besser zurückziehen sollte. Ich muss mir das allerdings dreimal überlegen, weil ich ja das Bild einfangen möchte.“ Einmal, in Schweden, wollte er sich Minuten lang nicht bewegen, da er gerade einen Elch vor der Linse hatte. Er machte großartige Bilder. Allerdings bevölkerten auch die in Skandinavien um einiges größeren Mücken bereits seine Unterarme. Er wurde komplett zerstochen Und an seinen Beinen kroch gleichzeitig eine Armee von roten Waldameisen hinauf. Er hatte sich mitten in einen Haufen gestellt. Seither reagiert er fast panisch, wenn Ameisen auch nur in der Nähe sind.
Ein anderes Mal, wieder in Schweden, tauchte eine Herde wilder Pferde vor seiner Kamera auf. Ein Hengst fing an, eine der Stuten zu decken. Mindestens zehn Minuten ging das so. „In freier Wildbahn sieht man das nicht so häufig“, erzählt Lubetzki, „ich war überglücklich.“ Dann aber bemerkte er sein Missgeschick: In seiner Aufregung hatte er vergessen, den Aufnahmeknopf zu drücken.
Zum Nachhören: Marc Lubetzki im Interview (Auszug)
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