Leidingen ist ein Grenzfall. 220 Einwohner gibt es in dem zweigeteilten Dorf – 192 auf deutscher, 28 auf französischer Seite. Schauen die Menschen aus den Fenstern, können sie ihren Nachbarn in die Wohnzimmer gucken, die auf der anderen Straßenseite leben – gleich gegenüber, in einem anderen Land.
Als würde sie auf einem Seil tanzen, balanciert das kleine Mädchen mitten auf der Straße. Und dann läuft die vielleicht Siebenjährige los, von der einen zur anderen Seite. Von Bürgersteig zu Trottoir. Sie ruft: „Jetzt bin ich in Frankreich.“ Und dann: „Jetzt bin ich in Deutschland.“ So geht das eine Weile. Frankreich, Deutschland , Frankreich, Deutschland. Sie ist mit ihren Eltern gekommen, wegen der Grenze – einer Grenze, die man nicht sehen, aber spüren kann. Die Eltern stehen ihr jetzt gegenüber, nur der schmale Streifen Asphalt trennt sie. Der Vater ruft: „Jetzt komm aber wieder rüber nach Deutschland!“
Es gibt Momente in Leidingen, einem saarländischen Dorf – keine zehn Kilometer entfernt liegt Saarlouis –, da kann es passieren, dass man nicht weiß, in welchem Land man gerade ist. Die Grenze verläuft mitten durch den winzigen Ort, der auf einer Hochebene des Saargaus liegt, einer dörflichen Region, die sich von der Mosel im Norden bis zur Saar im Süden zieht. Felder, Streuobstwiesen und sanft geschwungene Hügel prägen diese Landschaft, die weit blicken lässt. Modernste Navigationsgeräte aber kommen hier durcheinander und erzählen mehrmals binnen Sekunden: „Sie haben die Grenze passiert“. Und es gibt Momente, da bevölkern ganze Heerscharen von Japanern, Südkoreanern oder Amerikanern diese eine Straße, die zwei Namen hat, die auf deutscher Seite „Neutrale Straße“ und auf französischer „Rue de la Frontière“ heißt. Regelmäßig kommen Reisebusse nach Leidingen. Denn hier wird die unsichtbare Grenze Kulisse für die Videokameras und die Schnappschüsse der Touristen aus aller Welt.
1,6 Kilometer lang ist die Straße, die Frankreich und Deutschland miteinander verbindet – oder trennt, jeder hat da seine eigene Wahrheit in Leidingen, das auf französischer Seite Leiding heißt. 192 Einwohner leben auf deutscher, 28 auf französischer Seite. Ein Teil des Dorfes gehört zum Saarland, der andere zu Lothringen. Hier sieht man die Tagesschau, dort Le Journal de 20h. Es kommen zwei mobile Bäcker am Tag, der französische zwischen elf und drei, der deutsche pünktlich um neun. Es gibt zwei Postboten, zwei Sprachen und zwei Kirchen – beide katholisch. Dort strahlen die Straßenlaternen mit 100 Prozent Atomstrom, auf der anderen hilft ein Energiemix beim Leuchten. Und wer seinen Nachbarn gegenüber anrufen möchte, muss die jeweilige Landesvorwahl wählen und führt ein teures Auslandsgespräch – dabei können die Menschen, die an dieser Straße leben, ihrem Gegenüber ins Wohnzimmer oder in die Küche gucken.
Geht man bis zum Ortsausgang in Richtung Westen, liegt rechts Deutschland und links Frankreich. Im vorletzten Haus links, einem alten Bauernhof mit Geranien unter den Fenstern und unverputzten Mauern aus Naturstein, lebt das Ehepaar Schutz – gesprochen Schütz. Vor 15 Jahren haben die Schutz’ mal einen Preis für das schönste Bauernhaus der Region gewonnen. Heute steht Gertrude Schutz, die Ellenbogen auf das schmale Fensterbrett gestützt, am geöffneten Fenster und erzählt vom Verhältnis der Franzosen und der Deutschen, von vielen Gemeinsamkeiten und noch mehr Unterschieden. Sie sagt: „Wir leben hier vis-à-vis. Man versteht sich.“ Deutsche wie auch Franzosen sprechen denselben Dialekt: Moselfränkisch – das verbindet. Die 70-Jährige sagt aber auch: „Ein Herz und eine Seele sieht anders aus. Es ist eher ein Nebeneinander als ein Miteinander.“
Manchmal wechselt Gertrude Schutz die Sprache, ohne es zu merken. Hat sie den Satz in Deutsch begonnen, beendet sie ihn nun auf Französisch. Sie selber ist Deutsche und vor 50 Jahren nach Leidingen gezogen. Ihr Mann ist Franzose und kennt kein Leben ohne Grenze. Joseph Schutz ist 1937 in diesem Haus geboren. Ein Jahr noch ging er in Leidingen in die deutsche Schule, dann wurde die Grenze dicht gemacht. Bis zur Rente arbeitete er als Landwirt und hatte auch grenzübergreifend Ländereien. Ständig gab es Schikanen der Zöllner: An manchen Tagen durfte er rüber, an anderen nicht. Doch immer schon halfen sich deutsche und französische Bauern gegenseitig und bestellten die Felder des Nachbarn oder ernteten das Getreide, bevor es verderben konnte.
Die Grenze hat auch in Leidingen Familien getrennt, Lebenswege gekappt und das Dorf zerschnitten. Denn der Weg der Geschichte führt über die Neutrale Straße, die auf dem Wiener Kongress 1814 zur Grenze wurde. Und immer schon war das Dorf ein Spielball der Großmächte, wie das gesamte Saarland ein Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland war. „Mal französisch, mal deutsch“, sagt Joseph Schutz und zuckt mit den Achseln. In den letzten 200 Jahren haben die Leidinger sieben Mal die Nationalität gewechselt.
Und heute, wo die Grenze nicht mehr als eine gedachte Linie ist, wissen auch die Grenzbewohner nicht mehr so genau, wo diese eigentlich verläuft. Auch Herwig David ist sich nicht ganz sicher, ob sie wirklich in der Mitte der Straße ist. Auf manchen Karten ist sie anders eingezeichnet, dort zieht sie sich quer durch die Häuser und auch ein Stück weit durch seinen Garten. Ein verwitterter, mit Moos überwachsener Grenzstein von 1830 steht auf seinem Grundstück.
Vor acht Jahren sind Herwig David und seine Lebensgefährtin Petra Johannes in den alten Klosterhof gezogen, ein 1752 gebautes Gebäude, in dem es auch viele Jahre eine Brennerei gab. In den ersten Monaten haben sie sich nicht getraut am Abend nach acht die Bohrmaschine anzuschmeißen, so ruhig ist es in Leidingen. Zwei Jahre später belebte das Paar die hauseigene Brennerei neu. Allerdings haben sie ein so genanntes Abfindungsbrennrecht und dürfen nicht ins Ausland verkaufen. Wenn also einer ihrer französischen Nachbarn sagt, bring mal eine Flasche Schnaps rüber, dürfen sie das nicht. Doch auch so steigt die Nachfrage stetig, und inzwischen haben sie mit ihren Edelobstbränden die ersten Preise gewonnen.
Wenn der Ende-50-Jährige, der die meiste Zeit der Woche als Software-Entwickler für einen Importeur von Arzneimitteln arbeitet, früher über eine Grenze fuhr, war das wie Urlaub, sagt er. „Heute muss ich bloß über die Straße gehen und bin in einem anderen Land – und auch das ist wie Urlaub.“ Und gerade in Leidingen werden die Menschen schnell zu Grenzgängern. Herwig David fährt zum Tanken nach Frankreich, was dort günstiger ist. Auch zum Einkaufen geht es nach Bouzonville, das nur fünf Kilometer entfernt liegt. Pastete und Baguette, Fisch und Käse sind drüben preiswerter. Salami und Schinken, Möbel und Elektronik gibt es in Deutschland billiger.
Die Grenze verwischt in Leidingen, weil hier Häuser stehen und zwei Nationen Tür an Tür miteinander leben, was manchmal seltsame Blüten treibt: Als vor Jahren die Vogelgrippe grassierte, brachte einer seine Hühner über die Grenze zu seinem Cousin, wo sie frei laufen durften. Oder: Das Dorf hat eine eigene Feuerwehr. Doch bis vor kurzem haben die französischen Hydranten und deutschen Schläuche nicht zusammengepasst. Hätte ein französisches Haus gebrannt, hätte die Feuerwehr aus Bouzonville anrücken müssen.
Im Mai hat man im Dorf aus Stahl und Steinen zwei so genannte Grenzblickfenster gebaut, eines neben der deutschen, eines vor der französischen Kirche. Wer durch diese Fenster guckt, kann die jeweils andere Kirche sehen. Nichts verstellt den Blick. Grenzenlos soll die Aussicht sein. Und immer zur vollen Stunde läuten beide Kirchenglocken. Die französische beginnt, die deutsche antwortet – fast könnte man meinen, sie würden sich unterhalten.
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