„Es ist eine andere Welt hier bei uns“, sagen die Menschen von den Halligen. Hans Friedrich Nissen ist einer von ihnen, er ist mitten im Meer geboren. Und Langeneß ist einer der letzten Orte in Deutschland, wo allein die Natur die Regeln macht. Hier herrschen klare Verhältnisse: Die Nordsee bestimmt alles.
Der Mann, den alle bloß „Fiede“ rufen, stemmt seine Hände gegen rostiges Metall. Er schnauft, hat seine Seemannsmütze tief ins Gesicht gezogen. Sein Kopf läuft rot an vor Anstrengung. Er schwitzt in seiner wasserdichten Ölkleidung. Fünf Loren sind an diesem Morgen vor seiner geparkt – kleine, aus Holz und Stahl gebaute Fahrzeuge, die auf Schienen rollen. Die 500 Kilo schweren Minizüge müssen nacheinander auf eines der beiden Nachbargleise rangiert werden. Auch die Weiche wird per Hand gestellt. Nach einer Viertelstunde ist der Weg frei. Hans Friedrich Nissen klettert auf seine Lore, setzt sich auf die Holzbank neben den Motor und reißt an einer Kordel. Scheppernd springt der Zweitakter an. Ein Scheinwerfer schmeißt eine Lichtpfütze voraus. Die Reise durch das Meer kann beginnen.
Entlang der Schienen sitzen Austernfischer und Meerstrandläufer. Sie warten darauf, dass die Ebbe das nahrungsreiche Büffet im Watt eröffnet. Doch noch schlägt die Gischt über die Schienen, das Wasser steht bis an den Rand des Dammes, der daliegt wie ein Steg, als hätte er das Meer geteilt. Metall poltert auf Metall. Es ruckelt, wo zwei Gleisstücke von Nieten zusammengehalten werden. Das Tosen der Wellen und das Schreien des Windes werden vom monotonen Knattern des Acht-PS-Motors, der einst in einem Rasenmäher steckte, verschluckt. „Andere fahren mit Motoren aus Kettensägen“, sagt Fiede Nissen. Jeder hier baut seine Lore selbst. „Das war schon immer so.“
Seit über 80 Jahren sind die Gleise die Nabelschnur zum Festland. Zehn Kilometer misst der einsame Schienenstrang zwischen der Hallig Langeneß, einem schmalen Streifen Land mitten in der Nordsee, und Dagebüll, dem ersten Dorf am Festland. Auf halbem Weg liegt Oland, eine weitere Hallig, wo 15 Häuser stehen und 20 Menschen leben. „Alle sind auf ihre Loren angewiesen“, sagt Nissen. Denn eine Fähre läuft Langeneß nur zweimal am Tag und Oland überhaupt nicht an. Pendler nutzen ihre kleinen Privatzüge, um zur Arbeit zu kommen. Andere zum Einkaufen und für Besuche beim Arzt oder bei Freunden. Es werden Möbel und Feriengäste transportiert. Denn wenn bei Nebel, Sturm oder Niedrigwasser keine Boote mehr fahren, fährt immer noch die Lore. Ganz nach Windverhältnissen ist man in 45 Minuten hinterm Deich in Dagebüll, wo die meisten ein Auto stehen haben, um mobil zu bleiben.
„Irgendwo da ist die Küste.“ Fiede Nissen deutet in die Dämmerung. Bei besserer Sicht kann er das Ziel seiner Reise schon bei Abfahrt erkennen. Das Sprichwort, dass bereits heute zu sehen ist, wer morgen zu Besuch kommt, müssen sich Leute aus Nordfriesland ausgedacht haben – so flach ist es, so wenig versperrt den Blick. Zehn Halligen gibt es auf der Welt, alle im Schleswig-Holsteinischen Wattenmeer. „Eine Insel hat Deiche, eine Hallig nicht“, erklärt der Mittsechziger den Unterschied, „eine Hallig wird überspült, eine Insel nicht.“ So einfach ist das – wie vieles hier oben, wo klare Verhältnisse herrschen, wo alles mit dem Lineal gezogen zu sein scheint: die Küste, die Deiche, der rostrote Schienenweg, der einen in Gedanken bis hinter den Horizont reisen lässt. Nur ein bis zwei Meter liegen die Halligen über dem Meeresspiegel. Rund 20 Mal im Jahr werden sie bei Sturmflut überspült. Die Salzwiesen, der Fußballplatz und der Lorenbahnhof verschwinden dann. „Land unter“ nennt man das hier oben im Norden. Einzig die Warften, die aufgeschütteten Erdhügel, auf denen die Häuser geschützt vor den Fluten stehen, ragen dann wie Trutzburgen der Einsamkeit aus der graublauen Nordsee. Dann müssen Schafe, Kühe und Loren auf den Höfen in Sicherheit gebracht werden. Dann schrumpft das Leben auf ein paar Meter zusammen und steht vollkommen still. „Dann sitzen wir fest“, sagt Nissen. Und der „Blanke Hans“, wie die stürmische Nordsee genannt wird, umarmt dich und lässt für Stunden nicht mehr los.
Es gibt nicht mehr viele Orte in Deutschland, wo Menschen bedingungslos den Launen der Natur ausgesetzt sind, wo das Meer jeden Schritt bestimmt, wo die Naturgewalten direkt vor der Haustür wüten und die eigene Winzigkeit einen ohnmächtig machen kann. Manch einer sagt, die Menschen von den Halligen seien sonderbar, eher einsilbig, gar einfältig, mit Macken und Marotten. Andere sagen, die Menschen vom Festland redeten zu viel. „Viel zu viel“, sagt Fiede Nissen, der von Langeneß kommt, wo etwas mehr als 100 Menschen leben, wo jeder jeden duzt und es keine Geheimnisse gibt.
Doch nicht jeder ist gemacht für das Leben im Meer, wo es schnell an Grenzen geht. Viele Zugezogene haben es versucht, die meisten aber sind an der großen Stille, am ewigen Gleichlauf der Gezeiten gescheitert und zurück ans Festland geflüchtet. Für den einen sind die Halligen die letzte deutsche Wildnis, für den anderen eine einzig große Ödnis. „Es ist eine andere Welt hier bei uns, vielen ist das zu viel Natur“, sagt Fiede Nissen, „wir leben bewusster mit den Jahreszeiten und man wird ruhiger, hat viel Zeit zum Nachdenken.“ Die Zeit bekommt eine andere Bedeutung, nicht auszudrücken in Stunden oder Tagen, eher durch den Rhythmus der Nordsee: Ebbe und Flut teilen sich den Tag auf. Das Wasser kommt und geht zuverlässig nach Fahrplan, kosmisch präzise. Die Gewissheit, dass man nichts daran ändern kann, lässt einen entspannter werden.
„Man muss die Gezeiten im Blut haben. Der Tidenkalender ist bei uns wichtiger als die Bibel.“ Hans Friedrich Nissen bedient mit seinem blonden Rauschebart, den buschigen Augenbrauen und seiner vom Wetter gegerbten Haut, in die Sonne und Wind mächtige Falten gegraben haben, vortrefflich das Klischee des naturverbundenen Nordfriesen. Er ist der Bürgermeister von Langeneß und Oland. Beinahe täglich fährt er auf seiner Lore über die Trasse ans Festland. Freiberuflich arbeitet er für die Post – als „Postholer“, wie man hier sagt. Seit 33 Jahren schon bringt er den Leuten ihre Briefe und Pakete. Postleitzahlen 25863 und 25869.
Und da die Schienen bei Hochwasser zweimal am Tag vollständig überflutet sind und Nissen morgens oft als Erster rüber rollt, muss er besonders aufpassen. Oft versperrt auf den Damm geschwemmtes Treibgut den Weg, Schiffstaue, Holz oder die alten Netze der Fischer. Übersieht er diese, kann es passieren, dass die Räder aus der Spur springen und die Lore entgleist. „Eine Fahrt vergesse ich nie“, erzählt er. Vor über 30 Jahren war das: Eine Welle hatte seinen Motor außer Betrieb gesetzt. Alleine stand er in der Nordsee. Es stürmte und das Wasser stieg. „Das war es dann wohl“, dachte er damals kurz, „zum Glück hatte ich Rückenwind.“ Er konnte gerade noch nach Hause schieben, bevor das Meer ihn holte.
Wenn Fiede Nissen von der See und den Halligen spricht, kann man die Ehrfurcht in seiner Stimme hören. Mitten im Meer ist er geboren, hier hat er sein ganzes Leben verbracht. Er ist ein Mann des Meeres. Er sagt: „Ich habe hier alles, was ich brauche. Hier gehöre ich hin.“ Und er ist froh, dass es nur ein Gleis für die Loren und keinen komfortableren oder schnelleren Weg ans Festland gibt. „Dann wäre es auch schnell vorbei mit der Ruhe hier.“ Er schaltet den Motor aus und legt den Bremsknüppel um. Die Lore mit dem Posthorn rollt scheppernd am Langeneßer Bahnhof ein. Zwei Kisten mit Briefen und einige Pakete und Tageszeitungen an Bord. Hier enden die Schienen an einem Prellbock. Mit einem Stück Holz blockiert er eines der Räder, so dass der Wind die Lore nicht mitnehmen kann. „Endstation Langeneß“, ruft er. Das macht er oft, wenn er nach Hause kommt. Kein Mensch steht am Bahnhof. Es wartet niemand, um ihn abzuholen. Nur ein Mann, die Hallig und das Meer. „Genau so, wie es sein muss“, sagt Hans Friedrich Nissen.