Cécile Lecomte schläft wochenlang auf Bäumen, seilt sich von Brücken ab, klettert auf Strommasten, besetzt Abrissbagger und stoppt Züge mit radioaktivem Müll. Ihre Aktionen richten sich gegen Atomenergie oder Gentechnik. Die Französin ist hauptberufliche Umweltaktivistin. Sie sagt: „Ich klettere für eine bessere Welt.“
Es ist eine Frage des Willens – das wird schnell klar, wenn man Cécile Lecomte zum ersten Mal begegnet. Sie weiß, was sie will. Sie will, dass alle Atomkraftwerke für immer abgeschaltet werden – sofort. Sie will, dass Genfelder befreit werden. Sie will die Umwelt schützen. Und sie will nicht bloß darüber reden: Sie will handeln. „Ich kann nicht warten, bis vielleicht mal jemand etwas unternimmt“, sagt sie, „wie viele Atomunfälle muss es noch geben, bis sich etwas Grundlegendes ändern wird?“ Cécile Lecomte, Jahrgang 1982, sagt: „Ich bin zwar nicht kräftig, aber ich habe einen starken Willen. Und wenn wir viele sind, können wir die Welt verändern.“
Die Geschichte von Cécile Lecomte ist eine Geschichte der Gegensätze. Diese erzählt zunächst vom Oben. „Nach oben bewege ich mich flink wie ein Eichhörnchen“, sagt sie. Das ist ihr Spitzname: Eichhörnchen. Denn Cécile Lecomte kann klettern und verbindet ihr Talent mit ihrem Protest. Sie nennt es „politisches Klettern“. Drei Monate wohnt sie auf Bäumen, um den Bau einer Fernwärmetrasse für ein neues Kohlekraftwerk zu verhindern. Sie erklimmt Brücken und seilt sich über Gleise ab, wo Züge mit radioaktivem Müll rollen sollen. Strahlenmüll, von dem niemand weiß, wie gefährlich er wirklich ist und der quer durch die Republik transportiert werden soll. In Stuttgart steigt sie auf Abrissbagger, in Frankfurt blockiert sie den Flughafenausbau, an den Atomkraftwerken in Krümmel und Brunsbüttel entert sie Strommasten. In Hamburg hängt sie kopfüber an der Glasfassade eines Energiekonzerns und spannt Transparente: „Gau-Roulette: Tschernobyl – Fukushima – Krümmel?“
„Öffentlichkeitsarbeit“, nennt die Französin ihre spektakulären Aktionen, die sie meist mit der Unterstützung der Umweltorganisation „Robin Wood“ durchführt. „Ich mache das nicht aus Spaß oder weil ich jemanden ärgern will“, sagt sie, „wir brauchen diese Aufmerksamkeit zum Erreichen unserer Ziele.“ Manche nennen sie einen Störfaktor, eine streitbare Querulantin oder eine ernsthafte Gefahr. Für andere ist sie ein Vorbild, eine gewaltfreie Luftakrobatin und eine tatkräftige Umweltschützerin. Cécile Lecomte selbst sagt: „Ich bin Aktions-Kletterkünstlerin. Ich wäre nie bereit, Gewalt anzuwenden oder andere Menschen zu gefährden, da liegen für mich Grenzen.“
Sie ist in den Vogesen geboren und in Orléans aufgewachsen. Schon als Kind hat sie ihre Hausaufgaben am liebsten auf dem Schrank gemacht. Und sie wollte immer auf das Dach, nach oben, dort wo die Katze war. Mit sieben Jahren begann sie im Verein zu klettern, jeden Tag. Mit 16 war sie französische Jugendmeisterin. Gemeinsam mit ihrer Mutter fuhr sie jede freie Minute in die Alpen. „Das Klettern ist sehr vielfältig, es findet viel im Kopf statt“, erklärt sie, „du musst dir jeden Schritt genau überlegen und sehr flexibel sein, du musst immer neue Lösungen finden.“
Vor zehn Jahren ging sie nach Bayreuth, um zu studieren und die Sprache zu lernen. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste sie nicht viel über Atomkraft. Zu Beginn wunderte sie sich, dass man in Deutschland gegen Biber demonstriert. „Polizei, Knüppel und Biber“, las sie in einer Zeitung. „Castor“ – die Abkürzung für „cask for storage and transport of radioactive material“ – heißt auf Englisch und Französisch Biber. In Frankreich verteilen Energiekonzerne Aufklärungsmaterial an Schulen, wo die Lokomotive einen lustigen Biberkopf hat. „Eine bewusste Verharmlosung“, sagt Cécile Lecomte, „als Kind bin ich auch darauf hereingefallen.“
Die Geschichte von Cécile Lecomte ist eine Geschichte der Gegensätze. Denn diese handelt auch vom Unten. „Unten, das ist nicht meine Welt“, sagt sie, „ich habe Bodenangst.“ Sobald Cécile Lecomte die Erde berührt, verändert sie sich. Sie geht wie eine alte Frau. Jeder Schritt wird zur Qual und lässt die Gelenke brennen. Rennen geht schon lange nicht mehr. Vor sieben Jahren hat sie die Diagnose bekommen. Sie hat chronisches Rheuma, das mit Medikamenten allenfalls zu bremsen, aber nicht zu stoppen ist. Die Krankheit frisst ihre Knochen, auf dem Papier gilt sie als 60 Prozent behindert.
An Tagen wie diesem geht es nicht ohne Cortison. Die Schmerzen haben sie die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Die Dauerentzündung und die Wirkung der Tabletten machen sie müde. Wasser sammelt sich in den Gelenken, die anschwellen wie Ballons. Handgelenke, Fußgelenke, Knie, Finger, Zehen. Die Krankheitsschübe sind sehr unterschiedlich. „Es ist schwer zu planen“, sagt sie, „oft muss ich vor Aktionen Schmerzmittel nehmen.“ Dann taumelt sie zwischen Energie und Erschöpfung. Wenn sie klettert, hat sie weniger Beschwerden. Sie weiß, wie sie ihre Kräfte sparen kann, wie sie mit dem Körper balancieren muss, um ihre Gelenke möglichst wenig zu belasten. „Und auch das Adrenalin hilft mir gegen die Schmerzen.“
Heutelebt Cécile Lecomte in Lüneburg auf einem Bauwagenplatz. Sie arbeitet als Vollzeitaktivistin. Mehr als die Hälfte des Jahres ist sie unterwegs. Sie reist zwischen Aktionen, Vorträgen, Kletterkursen und Gerichtsprozessen hin und her. Rund 100 Kletteraktivisten gibt es in Deutschland, viele davon hat Cécile Lecomte selber ausgebildet. „Inzwischen kenne ich Deutschland besser als Frankreich“, sagt sie. Zurzeit wird sie von über 20 Menschen unterstützt, die im Rahmen einer Stiftung eine Patenschaft übernommen haben, darunter ein Arzt, ein Informatiker, eine Anwältin. Rund 800 Euro kommen im Monat zusammen. „Ohne diese Spenden könnte ich diese Arbeit nicht machen“, sagt sie, „sie fördern mich, weil ich klettern kann, eine Qualität, die man in der Protestbewegung braucht.“
Seit sie einmal einen Urantransport im Alleingang zum Stehen gebracht hat, ist sie so etwas wie der Star der Anti-Atomkraft-Bewegung. „Das war ein Volltreffer“, freut sie sich noch heute. „Das Eichhörnchen hat den Biber gefangen“, hieß es damals. Per Hubschrauber musste ein Spezialkommando eingeflogen werden. Sechs Stunden stand der Castor. Cécile Lecomte zeigt ein gerahmtes Bild: Sie hängt an einem Seil über einer Schiene. Ein Polizist sitzt in gleicher Höhe in einer Baumkrone. Sie lächelt ihn an. Der Beamte ist schwarz vermummt, es ist nicht zu sehen, ob er zurücklächelt. Seither begrüßen die genervten Polizisten sie mit Namen. „Hallo, Frau Lecomte, sie schon wieder.“
Vor sieben Jahren hatte sie sich erstmals an Schienen gekettet, um Castor-Anhänger zu stoppen. Schnell kam sie damals auf die Idee, dass Klettern viel effektiver sein könnte. Mittlerweile sind in ihrer Lüneburger Polizeiakte rund 50 Einträge gespeichert. An manchen Tagen soll sie zur selben Zeit an zwei Orten gleichzeitig gegen das Gesetz verstoßen haben. Das sagen zumindest die Akten. Wie oft sie verhaftet oder angeklagt worden ist, weiß Cécile Lecomte selber nicht. Sie zählt die dicken Ordner, in denen die teils seitenlangen Schreiben der Behörden abgeheftet sind. 15 sind es inzwischen.
„Vor Gericht kann es Tage mit mir dauern“, gesteht sie, „ich bin ein Dickkopf.“ Manchmal helfen ihr Anwälte, meist verteidigt sie sich selbst. Dann hält sie stundenlange Plädoyers, stellt beharrlich Beweisanträge und verlangt Akteneinsicht. Sie nennt es „offensive Prozessführung“. Ihre bislang höchste Geldstrafe waren 40 Tagessätze á 15 Euro. Sie hatte Genmaispflanzen aus einem Acker gerissen. Ein anderes Mal weigerte sie sich, fünf Euro für das illegale Überqueren von Bahngleisen zu zahlen und musste für 24 Stunden in so genannte Erzwingungshaft. „Ich wollte sehen, wie weit der Atomstaat geht“, sagt sie und zieht den Mund zu einer Schnute, wie kleine Kinder es machen.
Manchmal spricht Cécile Lecomte so schnell, dass sich ihre eigenen Worte überholen. Sie ist nie still, so scheint es. Sie hat auch viel zu erzählen. Und manche ihre Erlebnisse hören sich an wie die einer Schwerverbrecherin. Einmal, wieder einmal vor einem Castor-Transport, wurde sie zwei Wochen lang von einer Anti-Terror-Einheit überwacht. Tag und Nacht. 24 Stunden. Damals arbeitete sie noch als Lehrerin für Französisch an einer Lüneburger Waldorfschule. Das Mobile Einsatzkommando verfolgte sie bis zu ihrem Arbeitsplatz. Die Schulleitung stellte sie schließlich vor die Wahl: der Beruf oder ihr politisches Engagement. Sie kündigte noch am selben Tag. „Diese Überwachung war ein Eingriff in die Privatsphäre, ich habe mich ständig verfolgt und bedroht gefühlt“, blickt Cécile Lecomte zurück, „Gesetze, die zur Gefahrenabwehr gegen Terroristen erlassen werden, werden kurze Zeit später gegen Umweltaktivisten eingesetzt. Ich will aber nicht auf der Liste der Terroristen stehen, nur weil ich meine Meinung vertrete.“
Und nicht immer wird sie seitens der Polizei schonend behandelt. Vor drei Jahren verhaftete man sie vorsorglich, bevor die Castoren überhaupt rollten. Vier Tage Einzelhaft. Der einzige Vorwurf: Sie könnte an Tag X den Zug anhalten wollen. In Polizeigewahrsam erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Noch heute schläft sie schlecht, wenn die Bilder dieser Tage zurückkommen. Die weiß gekachelten Wände der Zelle. Das Neonlicht, das 24 Stunden durchgängig leuchtete. Das kleine Fenster, das kaum Tageslicht hereinließ. Nur einmal durfte sie für 20 Minuten an die frische Luft, an den Händen gefesselt.
Ihr Blick wird hart, wenn sie davon erzählt, die Augen sind glasig, ihre sonst so feste Stimme zittert. Längst hat sie eine Therapie begonnen. Sie sagt: „Ich kann nicht aufhören als Aktivistin zu arbeiten, also muss ich diese Sache aufarbeiten.“ Manche ihrer Freunde können heute nicht mal mehr auf Demonstrationen gehen, da sie durch die Erfahrungen mit der Polizei traumatisiert sind. „Andere hören auf“, sagt Cécile Lecomte, „ich werde mir das nicht nehmen lassen.“
Wenn sie aus dem Fenster ihres Bauwagens schaut, sieht sie die jungen Bäume, die sie und ihre Nachbarn vor einigen Wochen gepflanzt haben. Das Gelände, das sie gemeinsam mit 15 Bewohnern bei der Stadt Lüneburg gepachtet haben, liegt etwas außerhalb mitten auf einem Acker. In einigen Jahren vielleicht werden die Bäume etwas Schutz vor dem Wind bieten. Um auf ihnen klettern zu können, wird es noch viele Jahre mehr dauern. Ob Cécile Lecomte dann noch klettern kann, weiß sie nicht. Denn dann wird es vermutlich keine Frage des Willens mehr sein. „Man muss kämpfen“, sagt sie, „auch wenn es nicht immer leicht ist.“ Also macht sie weiter, solange es noch geht.
Dies ist ein Textauszug. Lesen Sie die ganze Geschichte in Buntland – 16 Menschen, 16 Geschichten.
Zum Nachhören: Cécile Lecomte im Interview (Auszug)
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