Seit über 40 Jahren lebt Klaus auf der Straße. Auf seinem Fahrrad fährt er durch Europa. Seine Begleiter: 200 Kuscheltiere und Plüschpuppen. Täglich bekommt er neue geschenkt und gibt sie weiter an Menschen, die ihm ein paar Euro dafür geben. Davon lebt er. Die Geschichte eines Mannes, der immer unterwegs ist und nie ankommt.
Die Stoffpuppen und Plüschtiere sprechen mit ihm. Sie kennen viele Geschichten. Alle wissen eine andere, eine eigene. Es sind die Geschichten seines Lebens. Und sie erzählen sie ihm immer wieder. „Sie sind meine Familie“, sagt der Mann mit dem langen grauen Bart und den lieben Augen, „ich kotze mich auch bei denen aus, wenn es mir schlecht geht.“ Die, die eine besondere Geschichte zu erzählen wissen, wird er nie hergeben. Den kleinen Bären mit dem Herzen und dem Aufdruck „I’m Yours“, der von einer Reise ans andere Ende Europas und dem türkischen Mädchen weiß, das wie eine Prinzessin aussah. Die kleine hässliche Ente, die seit über zwanzig Jahren bei ihm ist, und die ihn an Palermo und an einige Tage mit einem sizilianischen Mafioso erinnert. Oder der große braune Elch mit dem gelben Geweih, der meist ganz vorne auf dem Lenker seines Fahrrades sitzt, aus einem dänischen Dorf gleich hinter der Grenze kommt und ein Geschenk des Bürgermeisters ist. „Hinter jeder dieser Puppen steckt ein Mensch, dem ich irgendwann begegnet bin“, sagt Klaus Kuchheuser.
Der 60-Jährige sagt: „Ich bin der Penner der Kuscheltiere.“ Er lebt auf der Straße, seit über 40 Jahren. Und er besitzt nicht viel mehr als sein Fahrrad und einen kleinen Anhänger voller Schmusepuppen. Rund 200 begleiten ihn immer – viele Bären, einige Affen, manche Zwerge, Mäuse, Esel, Elefanten, Hunde, ein Reh. Täglich bekommt er neue geschenkt, von Menschen, die durch den bunten Berg angelockt werden. Regelmäßig hupen und winken ihm Autofahrer, dann reißen sie die Glücksbringer von ihren Rückspiegeln und schmeißen sie ihm durch die Fenster auf den Asphalt. Und selbst manche Kinder trennen sich bereitwillig von ihren Lieblingen: „Dieser Bär fehlt dir noch in deiner Sammlung.“
Klaus lebt davon, dass er seine bunten Begleiter weitergibt, denn immer bekommt er auch ein paar Euro dafür. Er sagt: „Ich tausche die Tiere, das klingt besser als Betteln.“ Sicher 20.000 Stück, schätzt er, sind bereits durch seine Hände gegangen. Und jeder Tausch gilt für ihn als kleiner Triumph, als Bestätigung für seine Art zu leben. Denn er ist schon weit herumgekommen in seinem Leben. Dreimal um die Erde ist er bestimmt schon gefahren, sagt er. Sicher 50 Räder hat er mit den Jahren verschlissen. Halb Europa hat er gesehen. Er sagt: „Mein Leben finde ich unterwegs.“ Landkarten oder Straßenpläne hat er noch nie gebraucht, „ich weiß ja nie so genau, wo ich eigentlich hin will“. Einmal hat er eine Wohnung in der Nähe von Frankfurt gehabt. Drei Tage hat er es ausgehalten, ehe er wieder auf die Straße flüchtete. „Die Wände haben mir die Luft genommen. Ich kann nicht länger an einem Ort sein, das ist wie Stillstand für mich“, erzählt er, „irgendwann werde ich wohl tot vom Rad kippen.“
Klaus trägt eine schwarze Baskenmütze, die ihm mal irgendjemand geschenkt hat. Er findet, sie passt zu ihm. „Auch ich will unabhängig sein und kämpfe dafür“, sagt der Mann mit den tiefen Falten. Fast sechs Jahre hat er im Süden Frankreichs gelebt, lange in Marseille, in Lyon, im Baskenland, dann auf Korsika, wo er eine Ausbildung zum Melker gemacht hat. „Einen Job muss man haben“, sagt er. Auch heute hilft er noch manchmal auf Bauernhöfen aus, wo er dann umsonst schlafen und essen kann. Er hat als Totengräber und als Weihnachtsmann, auf Jahrmärkten und bei einem Zirkus gearbeitet.
Und irgendwann hat er aufgehört, sich zu fragen, warum gerade er dieses Leben abbekommen hat. „Ich bin frei und zufrieden“, sagt er heute. Das sagt er häufig. Und fast klingt es so, als wolle er mit seinen Wiederholungen die Wahrheit überzeugen. Denn hinter dem bunten Berg aus Plüsch ist Klaus‘ Leben noch nie kuschelig gewesen. Eine Familie hatte er nie. Er war ein Jahr alt, da brachten ihn seine Eltern ins Heim. Mit 15 haute er ab. Immer wieder kam er wegen Landstreicherei, Körperverletzung und Diebstahl ins Gefängnis, für insgesamt 16 Jahre. Knast, Straße, Knast, Straße. „Immer hin und her.“
Dreimal versuchte er sich das Leben zu nehmen, zweimal wurde er in die Psychiatrie eingeliefert. Im Vollrausch schnitt er sich mit Messern und einer Axt in Arme und Beine. Das letzte Mal wollte er vor 15 Jahren „Schluss machen“, wie er sagt. Er hielt sich eine alte Militärpistole an die Schläfe und drückte ab. Kein Schuss löste sich, irgendwas hatte sich verklemmt. Als er im nächsten Augenblick wieder nach vorne zielte und den Abzug drückte, funktionierte die Waffe wieder. Er schoss das gesamte Magazin leer. „Gott oder der Teufel wollten mich noch nicht“, sagt er leise, als wolle er nicht, dass es jemand hört. Oft hat er noch an Selbstmord gedacht, es aber nicht mehr gewagt. Noch heute hört er manchmal im Traum die Schüsse. Doch er säuft nicht mehr so viel wie früher und fühlt sich stabiler. „Keinen Hartsprit mehr“, sagt er, „der macht nur aggressiv.“ Oft schickt er seinen Sätzen ein kurzes Lachen hinterher, auch wenn diese nicht zum Lachen sind.
Sein erstes Stofftier hat er bekommen, da war er fünf – ein Nilpferd mit einer roten Mütze. Er hat es heute noch. „Es erinnert mich an die schlimme Zeit im Heim und daran, wie gut es mir heute geht“, sagt er, „ich bin wohl immer noch ein Kind, sonst hätte ich die ganzen Schmusedinger nicht.“ In Venedig hat er einmal über 30 Stück an einem Tag getauscht. „Dort sind die Leute verliebter als anderswo“, sagt Klaus. In Norwegen hat ihm ein Mann umgerechnet 50 Euro für ein Rentier mit Nikolausmütze gegeben. „Der sah aus wie ein Wikinger“, erzählt er, „ich mag Wikinger, die waren auch immer unterwegs, so wie ich.“ Und in einem Dorf an der polnisch-ukrainischen Grenze ist ihm mal eine ganze Schulklasse hinterhergelaufen. Erst als er jedem der Kinder eine Stoffpuppe geschenkt hatte, beruhigten sie sich wieder.
Wenn Klaus von seinen Plüschtieren spricht, spricht er immer auch von einem Menschen. Der schwarzgelbe Teddy mit der Mütze und dem Fanschal von Borussia Dortmund bedeutet ihm am meisten. Er erzählt ihm oft die traurige Geschichte seines besten Freundes, der an einer Überdosis Heroin in seinen Armen starb. Über 20 Jahre ist das her. Trotz dieser Erinnerungen wird er den Bären behalten. „Den nehme ich mit ins Grab“, sagt er, „der kennt ja auch viele schöne Geschichten“. Immer wenn sie ein paar Mark übrig hatten, sind er und sein Kumpel gemeinsam ins Dortmunder Westfalenstadion gegangen. „Seit ich laufen kann, bin ich BVB-Fan“, sagt Klaus, der in Wuppertal geboren ist. Und auch heute verpasst er nur selten ein Spiel. Samstags am Radio. Im Stadion war er schon seit 17 Jahren nicht mehr. Er sagt: „Eintrittskarten kann man nicht essen.“
Einen Traum hat Klaus trotzdem. „Einmal nach Amerika“, sagt er, „auf der längsten Straße der Welt.“ Einmal auf der Route 66 quer durch die USA von Chicago nach Los Angeles. Fast 4000 Kilometer, nur er mit seinem Fahrrad und seinen Kuscheltieren. Doch schnell bremst er sich selbst, als er zu euphorisch von dieser Idee erzählt: „Daraus wird nichts. Wer soll das bezahlen?“ Er sagt: „Viele wollen immer nur haben, haben, haben, und wenn sie tot sind, haben sie gar nichts mehr. Ich habe meine Tiere, die mich über Wasser halten und die mir mein Leben etwas bunter machen.“ Dann überlegt er einen kurzen Moment: „Und das ist alles.“
Dies ist ein Textauszug. Lesen Sie die ganze Geschichte in Buntland – 16 Menschen, 16 Geschichten.