Helmut Haardt züchtet Milliarden kleiner Killer und verschickt sie mit der Post. Es sind gefräßige Raubtiere und hinterhältige Parasiten. Und Gärtner und Biologen sind begeistert, denn die Miniatur-Monster helfen dabei, besonders umweltschonend gegen Schädlinge vorzugehen.
Dr. Helmut Haardt ist ein Meister der Verwandlung. Er versteht es, Insekten auf unterhaltsame Art nachzuahmen. Er kennt sie gut, er beobachtet sie bereits sein halbes Leben. Gerade ist er eine Schlupfwespe, die eine Blattlaus ansticht und ein winziges Ei hineinlegt. Sein Zeigefinger ist der ausgefahrene Legestachel. Nun wechselt er für einen Moment die Rolle und wird zur Blattlaus. „Das sind keine besonders schlauen Tiere“, sagt er, „die sitzen eigentlich nur da und saugen am Blatt.“ Helmut Haardt sitzt nun einfach nur da, starrt ins Leere und bewegt den Mund, als ob er etwas kaut.
Der 56-Jährige ist nun ganz in seinem Element. Er hält die Hände vor den Mund, seine Finger sind jetzt die scharfen Beißwerkzeuge der Wespe, die in wenigen Tagen in der Blattlaus gewachsen ist und ihren Wirt nun von innen verspeist. Dafür verzieht er ein wenig das Gesicht, beißt immer wieder zu und macht leise Fressgeräusche. Helmut Haardt frisst sich nun genüsslich heraus aus der Laus. „So funktioniert die Natur“, sagt er. Ende der kurzen Vorstellung.
Dass die Natur brutal und unbarmherzig sein kann, weiß niemand besser als Helmut Haardt. Denn das Prinzip vom Fressen und Gefressen-werden bestimmt seinen Beruf. In Stolpe, einem Dorf mit 1300 Menschen mitten in Schleswig-Holstein, züchtet der gebürtige Bochumer für die Firma re-natur jedes Jahr viele Milliarden mikroskopisch kleiner Tierchen, die per Post an Gärtnereien, Baumschulen oder private Haushalte verschickt werden. Diese sogenannten Nützlinge – Schlupfwespen, Killerwürmer oder Raubwanzen – saugen und fressen sich durch deutsche Gewächshäuser und helfen auf natürliche Weise bei der Bekämpfung von Schädlingen. Das Sortiment ist groß: Gärtner können unter mehr als 50 verschiedenen räuberischen oder schmarotzerischen Nützlingen wählen. Marienkäfer töten Blattläuse, Schlupfwespen halten Weiße Fliegen und Lebensmittelmotten in Schach, Raubmilben jagen Spinnmilben, Florfliegen fressen alles. „Eine einzige Schlupfwespe schafft 1000 Blattläuse“, betont Helmut Haardt, „ist das nicht fantastisch?“
Als in den 1960er Jahren in holländischen Gewächshäusern die ersten Versuche in der biologischen Schädlingsbekämpfung gemacht wurden, gab es nicht mehr als zwei Arten von Nützlingen. In Deutschland wurden die kleinen Erntehelfer erstmals zu Beginn der 1980er Jahre in Ökogärtnereien eingesetzt. Noch aber gab es keine Firma, die die Räuber auch auf Bestellung züchtete. Helmut Haardt schrieb damals noch an seiner Doktorarbeit über eine Schlupfwespenart. Er war einer der Ersten, die sich mit der Nützlingszucht befassten und auf diesem Gebiet selbständig machten. 1992 war das.
Doch es ging schleppend voran. Haardt wusste, er würde Geduld brauchen. Und auch heute deckt die biologische Schädlingsbekämpfung nur einen geringen Teil des Pflanzenschutzes ab. In Deutschland gibt es lediglich fünf kleinere Firmen, die sich auf die Zucht der natürlichen Gegenspieler spezialisiert haben. „Ein Nischengeschäft“, weiß Haardt, reich werden könne man in seiner Branche nicht, die Chemiegläubigkeit sei hierzulande nach wie vor ausgeprägter. „Insektizide haben bei uns eine lange Tradition“, erzählt er, „alles muss stets sauber, perfekt und frei von Befall sein.“ Und vor allem schnell soll es wirken: Heute spritzen, morgen muss der Schädling verschwunden sein. Minimaler Aufwand, maximale Wirkung. „Diese Gifte vernichten jedoch alles, die Schädlinge und auch ihre natürlichen Feinde“, erklärt er. Dabei dürfe es gar nicht das Ziel sein, sämtliche Schädlinge auszurotten, vielmehr müsse man sie auf eine kaum spürbare Population reduzieren. Denn Blattläuse, Raupen und Minierfliegen sind wichtig, als Nahrung für die Nützlinge. „Wir brauchen beide Seiten, damit die Natur als Ganzes funktionieren kann und nicht aus dem Gleichgewicht gerät.“
Man glaubt, zu sehen, dass Helmut Haardt viel nachgedacht hat in seinem Leben. Er hat eine hohe Stirn, die wirren Haare sind etwas licht geworden, sehen aus wie vom Wind gekämmt. Und er ist ein guter Erzähler. Denn er spricht viel mit einfachen Worten und in einfachen Bildern. „Ich muss meinen Kunden ja erklären können, wie Nützlinge funktionieren“, sagt er, „und da bringt es gar nichts, wenn ich von Aphelinus abdominalis oder Heterorhabditis bacteriophora spreche – das versteht keiner und schreckt bloß ab.“ Der Züchter muss Brücken bauen und den Leuten die Angst vor dem Neuen nehmen. Er muss erklären, dass die ein bis zwei Millimeter große Schlupfwespe für Menschen nicht gefährlich ist, dass Fadenwürmer, so genannte Nematoden, gar nicht eklig, sondern sehr nützlich sind. „Möchten Sie mal welche sehen?“
Schon ist er unterwegs und hat das Büro verlassen. Nur wenige Augenblicke später taucht er wieder auf und legt einen handlichen Plastikbeutel mit einem gelblichen Pulver auf den Tisch: 50 Millionen räuberische Nematoden. Die mit bloßem Auge nicht zu erkennenden Würmer werden gegen die Larven des Dickmaulrüsslers, gegen Nacktschnecken oder Trauermücken eingesetzt, einem Schädling, der gerne ganze Baumschulen befällt. „Nematoden liegen voll im Trend“, sagt Helmut Haardt, „die schaffen ordentlich was weg und sind sehr pflegeleicht.“ Bei vier bis zwölf Grad Celsius verfallen die Würmchen in eine Art Winterschlaf und sind etwa fünf Wochen haltbar. 50 Millionen Stück gibt es für 16,50 Euro. Die Gebrauchsanweisung liegt bei.
Die Haltung von Blattläusen ist die Basis jeder Zucht. Unter Wärmelampen wird zunächst Weizen in Plastikschälchen gezogen, darauf werden die Blattläuse gezüchtet. Denn um Marienkäfer, Schwebfliegen oder Florfliegenlarven zu mehren, müssen zunächst die Tiere vorhanden sein, von denen sie sich ernähren – die Schädlinge. Und um diese in großen Mengen zu halten, sind die Pflanzen nötig, auf denen sie leben. Die Zucht folgt dem Kreislauf der Natur. „Und dann wird geerntet“, sagt Haardt. Der Weizen wird geschnitten und die Nützlinge, die an den Blättern kleben, werden abgestreift oder abgesaugt. Alles in Handarbeit.
Helmut Haardt springt erneut auf. „Warten Sie, ich hole mal ein Hummelvolk.“ Er kommt zurück mit einem Karton, in dem es aufgeregt summt. „Bitte sehr, ein Volk mit 70 Tieren und einer Königin.“ Hummeln helfen im Gewächshaus beim Bestäuben von Tomaten, Paprika oder Auberginen. Später wird er noch Schlupfwespen in verkorkten Glasröhrchen zu je 250 Stück und Raubmilben in Dosen zu je 25.000 Stück zeigen. „Die lassen sich natürlich nur optisch und nach Gewicht zählen“, so Haardt. In fünf großen Kühlschränken lagern Milliarden der freiwilligen Erntehelfer. Verpackt in Dosen, Röhren und Beuteln werden sie per Express verschickt und sind am nächsten Tag am Einsatzort. „Im Winter haben wir trotzdem häufiger Ausfälle, dann überleben die Tierchen die Temperaturschwankungen nicht.“ Und auch wenn die Post mal einen Tag länger braucht, kann es bereits zu spät sein. Denn Nützlinge müssen frisch sein.
Als Helmut Haardt die Tür zu einem der wenige Quadratmeter großen, fensterlosen Zuchträume öffnet, schwirrt ihm eine Florfliege entgegen. Sie hat sich in die Produktion der Haferblattläuse verirrt. „Für diese Fliege das Schlaraffenland“, sagt Haardt. Er fängt das Insekt und setzt es vor die Tür. Ein einzelnes fremdes Tier kann nicht viel ausrichten, mehrere jedoch könnten schnell dafür sorgen, dass die Zucht zusammenbricht. Im letzten Jahr hatten sich Schlupfwespen bei den Läusen eingeschlichen. „Die haben richtig zugelangt“, so der Insektenexperte, „und dann hat man schnell 1000 Wespen, die man unter den Milliarden von Blattläusen gar nicht bemerkt. Das ist der Super-GAU.“ Dann müsse der Raum bis in die kleinste Ecke gesäubert und eine Woche lang auf 45 Grad geheizt werden. Und mit der Zucht müsse man ganz von vorne beginnen.
Zurück in seinem Büro zeigt Helmut Haardt noch einen kurzen Film über die Schlupfwespe. Jetzt sticht sie die Blattlaus, legt das winzige Ei. Die Larve wächst und frisst die Laus von innen heraus auf. Helmut Haardt schaut auf den Bildschirm, als sehe er das alles zum ersten Mal. „Unglaublich“, sagt er, als der Film vorbei ist. Mit dieser Schlupfwespe, die Helmut Haardt liebevoll „mein Haustier“ nennt, hat 1984 alles angefangen. Für Helmut Haardt, und auch für die Zucht von Nützlingen in Deutschland, die häufig noch übersehen wird. Helmut Haardt vermag nicht zu sagen, wohin der Trend gehen wird. Die Nachfrage nach Nützlingen sei in den letzten Jahren gewachsen, sagt er, „eine gute Entwicklung.“ Die Wenigsten aber wüssten, dass es Firmen wie re-natur überhaupt gibt. Die Hummeln summen im Karton auf dem Schreibtisch, daneben das Röhrchen mit den Wespen und das Päckchen mit den 50 Millionen Nematoden. Als Helmut Haardt sich verabschiedet, hebt er noch einmal kurz die Hand und winkt. Fast sieht es so aus, als versuche er, ein Insekt aus der Luft zu greifen.
Zum Nachhören: Helmut Haardt im Interview (Auszug)
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