Jacek Lech ist in Oświęcim geboren und aufgewachsen. Dort arbeitet er als Guide für Touristen. Dort führt er ein normales Leben an einem unnormalen Ort. Denn die Welt kennt Oświęcim unter einem anderen Namen: Auschwitz.
Was der Name seiner Heimatstadt für Gefühle auslösen kann, hat Jacek Lech schon oft erlebt: Die Menschen erschrecken. Sie hören den Namen und zucken zusammen. Manche verstummen, es schnürt ihnen die Kehle zu. Andere reißen überrascht die Augen auf und fragen: Echt? Da bist du geboren? Wie kann man da denn leben? Betroffene Blicke. Betretenes Schweigen. Das war schon früher so, wenn er mit seiner Fußballmannschaft unterwegs war oder ins Ferienlager an die Ostsee fuhr. Und das ist heute noch so, wenn er nach seiner Heimat gefragt wird. Jacek sagt, er hat gelernt, mit den Reaktionen zu leben, wenn er antwortet: „Ich komme aus Oświęcim.“ Denn die Stadt in Südpolen hatte früher mal einen deutschen Namen: Auschwitz.
Die Hölle auf Erden, der größte Massenmord der Geschichte – das ist es, was die Welt zur Kenntnis genommen hat und was die Stadt, die nur fünf Jahre lang Auschwitz hieß und als Oświęcim eine über acht Jahrhunderte zurückreichende Geschichte hat, zu einem der wichtigsten Touristenziele des Landes macht. „Es gibt die Gedenkstätte und es gibt die Stadt“, muss Jacek dann erst einmal erklären. Selbst viele Polen wissen das nicht. Rund eine Millionen Besucher kommen jedes Jahr nach Auschwitz, von Oświęcim sehen sie nicht viel. Viele der 40000 Bewohner glauben, dass die Geschichte noch immer zu große Schatten auf die kleine Stadt wirft. Sie fühlen sich als Verlierer der Geschichte. Sie sagen, ihre Stadt hätte keine Chance auf Entwicklung mit dieser Vergangenheit. „Ich glaube das nicht“, sagt Jacek, „zumindest im Alltag ist davon nicht viel zu spüren. Für die Menschen hier ist es schon lange kein Widerspruch mehr, am Abend auf dem Weg in die Disco am Lagerzaun vorbeizulaufen. Wir wissen, dass dies kein normaler Ort werden wird, dennoch müssen wir versuchen, ein normales Leben zu führen.“ Vielleicht hätte Oświęcim ohne den Zweiten Weltkrieg heute ein anderes Gesicht und wäre für hervorragende Liköre, sein Schloss oder die schönen Kirchen bekannt. Doch so wie auch Hiroshima, Tschernobyl oder Srebrenica Orte sind, an denen das Grauen wohnt, hat es die Geschichte auch hier anders gewollt.
Die Menschen aus Oświęcim sind froh über ihren Fluss, der sie zumindest räumlich von der Vergangenheit trennt. Die Sola, ein Nebenarm der Weichsel, teilt die Stadt in einen großen Teil rechts vom Ufer und einen kleineren links. Linksseitig liegt das ehemalige Konzentrationslager, das so genannte „Stammlager“. Die Sola fließt unmittelbar daran vorbei. Kurz bevor sie allerdings die wuchtigen, aus rotem Ziegelstein gebauten Baracken und die Stacheldrahtzäune erreicht, macht sie einen Bogen. Sie entfernt sich wieder. Es sieht so aus, als wüsste das Wasser, dass dort Schreckliches geschehen ist. Es gibt Menschen, die sagen, dass Wasser ein Gedächtnis hat. An diesem Ort möchte man das glauben. Denn erst dort, wo der Lagerkomplex endet, ändert auch der Fluss wieder seinen Lauf und macht den Bogen zurück, ehe er einen Kilometer hinter der Stadt in die Weichsel mündet.
Jacek lebt auf beiden Seiten des Flusses, in beiden Städten: Er ist 1971 in Oświęcim geboren, dort ist er aufgewachsen, dort wohnt er heute. In Auschwitz, der Gedenkstätte, arbeitet er als Touristenführer, auch wenn man das an diesem Ort nicht so nennen möchte. Jacek ist Geschichtswissenschaftler. In seinem kurzärmeligen, karierten Hemd, mit seiner Brille, seinem aufrechten Gang und den dünnen, weißen Armen sieht er aus wie ein Einserschüler. Er spricht perfekt Englisch und Schwedisch. Auch sein Deutsch ist beinahe akzentfrei, nur manchmal rollt das R ein wenig zu weit. Seit 2001 führt er Besucher durch das Stammlager und zeigt ihnen auch das einstige Vernichtungslager Birkenau drei Kilometer außerhalb der Stadt.
Als Junge fuhr Jacek oft mit dem Fahrrad an den meterhohen Zäunen und Wachtürmen in Birkenau vorbei, wenn er auf dem Weg zum Baggersee war. Doch erst mit zwölf traute er sich mit Freunden zum ersten Mal auf das Gelände. „Wir wussten nicht, was dort geschehen war. Dass etwas Grausames passiert sein musste, spürten wir aber sofort. Der Stacheldraht, die Baracken, die Ausmaße, die Gleise, die hier endeten. Und vor allem diese Stille. Die ganze Atmosphäre war gespenstisch. Später spielten wir auch in den verlassenen Bunkern und sahen uns die zerstörten Gaskammern und Krematorien an. Wir wussten ja nichts darüber, für uns waren das bloß Ruinen.“
Erst in der Schule bekam Jacek einen ersten Hintergrund. Bis 1989 aber hatte es in Polen kaum Details zum Holocaust gegeben. Man hatte geglaubt, dass die meisten der Opfer Polen gewesen waren. Die Ohnmacht war groß, als nach der Kapitulation des Kommunismus die ersten Bücher erschienen und erstmals die Zahl der in Auschwitz ermordeten Menschen genannt wurde. Eineinhalb Millionen. Man wusste nun auch, dass die meisten Opfer Juden aus ganz Europa und etwa zehn Prozent Polen darunter waren. Durch die öffentliche Diskussion, die nun begann, fing auch Jacek an, sich für die Geschichte seiner Heimatstadt zu interessieren. Zu Hause saßen sie oft am Tisch und diskutierten. Jeder erzählte, was er wusste. Sein Onkel war Tischler und im KZ ein so genannter „Zivilarbeiter“ gewesen. Fast täglich musste er im Stammlager Reparaturen erledigen. Wenn er am Morgen durch das Lagertor trat, wusste er nicht, ob er den Tag überleben würde. „Er hat schreckliche Dinge gesehen“, sagt Jacek, „die Menschen aus Oświęcim aber hatten erstaunlich wenig mitbekommen. Die Nazis hatten die Lager sehr gut abgeschirmt und eine Sperrzone eingerichtet.“ Seine Großmutter erinnerte sich, häufig Züge mit Gefangenen, zusammengepfercht in Viehwaggons, gesehen zu haben. Sie arbeitete bei einem deutschen Bauern in dessen Obstgarten, ganz in der Nähe der so genannten „Judenrampe“, wo die Transporte ankamen und von wo die Menschen zur Arbeit ins Lager oder sofort ins Gas geschickt wurden. Aus einem Puzzle an Informationen setzte sich Jacek damals ein erstes Bild zusammen. Doch erst viel später sollte er die Spur wieder aufnehmen. Zunächst studierte er Geschichte in Krakau, dann in Augsburg, dann in Malmö. Anschließend arbeitete er für eine polnische Internetfirma. Lange sah es nicht danach aus, dass er zurückkehren würde nach Oświęcim. Bis ein Freund ihn anrief. Er hatte eine Stellenausschreibung in der Zeitung gelesen: Gedenkstätte Auschwitz sucht schwedischsprachigen Guide. Jacek bewarb sich. Sechs Monate bereitete er sich auf die Prüfung vor. Er bekam den Job.
Darf man in Auschwitz lachen? Darf man einen Apfel essen? Darf man die Sonne genießen? Darf man einen Sonnenuntergang fotografieren? Fragen, die Jacek häufig gestellt bekommt. Er sagt: „Auschwitz ist der größte Friedhof der Welt und manche Menschen möchten hier in Ruhe gedenken. Man sollte also aufeinander achten. Doch jeder sollte auch seinen eigenen Weg finden, wie er an diesem Ort sein möchte.“ Es gibt Touristenführer, die ihre Texte auswendig lernen. Das klingt meist so, als würde eine Maschine sprechen. Jacek sagt: „Auschwitz ist kein Ort für einen Audioguide. Es müssen Fragen gestellt und Antworten gegeben werden. Und immer wenn es zum Dialog kommt, wird es auch eine gute Führung. Ich habe ja keine fertige Geschichte zu erzählen, es ist bloß ein Skelett an Fakten. Und ich weiß vorher auch nicht, mit was für Menschen ich es zu tun habe werde und welchen Hintergrund sie mitbringen, ob sie vielleicht Opfer oder Täter in der Familie haben. Doch dann komme ich ins Gespräch und erfahre Details. Das ist das Spannende an meinem Beruf. Wer schon mit vielen Antworten nach Auschwitz kommt, geht oft mit noch mehr Fragen nach Hause.“
Jacek ist ein guter Guide. Er erzählt, was damals geschah. Er zeigt die Berge aus Menschenhaar. Er nennt Zahlen. Vor allem aber ist er ein neutraler Berichterstatter – er klagt nicht an. Er ist sehr sachlich, aber nicht gleichgültig. Man muss damit umgehen können, so eine Verantwortung zu haben. „Es wäre leicht diesen Ort und seine Geschichte zu instrumentalisieren“, sagt er, „doch es ist nicht nötig, künstlich Atmosphäre zu schaffen, etwa mit besonderen Worten oder vielen Erklärungen – dieser Ort spricht für sich.“
Einige der Baracken im Stammlager sind Ausstellungsräume. In Block 6 hängen hunderte Schwarzweißfotos an grauen Wänden. Ein langer, karger Flur, am Ende ein vergittertes Fenster. Neonröhren machen kaltes Licht. Zahllose Augen starren aus bleichen Gesichtern. Die Schädel kahl. Die Wangen hohl. Die Porträtbilder der Inhaftierten tragen Nummer, Name, Geburtsdatum, Tag der Einlieferung und Todesdatum.
„Es gibt viele Momente, in denen man als Guide schweigen muss“, sagt Jacek, „ich muss die Besucher mit ihren Gedanken und Gefühlen auch alleine lassen. Ich darf niemanden überfordern. Bevor wir die Todeszellen in Block 11 betreten, fasse ich immer schon vorher zusammen, was sich dort abgespielt hat. Jeder kann dann selber entscheiden, ob er sich diesen Ort ansehen möchte.“ Jacek trägt eine dieser Brillen, deren Gläser dunkler werden, je mehr Licht darauf fällt. Es ist sehr hell an diesem Tag, die Sonne scheint. Man kann nicht sehen, was seine Augen sagen, als er diese Geschichten erzählt. Man kann nicht erkennen, wie sehr sie ihn berühren. Dann sagt er: „Auch ich habe Tränen in den Augen, wenn Menschen fluchtartig den Raum verlassen, weinen oder ohnmächtig werden, weil sie von den Eindrücken erschlagen werden. Das sind Augenblicke, in denen Menschen plötzlich etwas verstehen oder sich vielleicht an etwas erinnern. Andere wiederum sind völlig desinteressiert oder lachen, weil sie nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Auch das ist absolut menschlich und bis zu einem gewissen Punkt auch in Ordnung.“
Wenn Menschen sich vor Sehenswürdigkeiten fotografieren lassen, tun sie das, weil sie einen Beweis mit nach Hause nehmen wollen, um zeigen zu können, dass sie wirklich da waren. Auch in Auschwitz machen Besucher diese Beweisbilder: Sie stellen sich vor das Eingangstor des Lagers mit der aufschwingenden Schmiedeschrift Arbeit macht frei. Vor die zerstörten Gaskammern. Vor die Galgen am Appellplatz. Und selbst vor der Todeswand, an der die Erschießungen vollstreckt wurden, posieren manche Leute. Und ihre Freunde drücken ab.
Jacek sagt dazu nichts. Er hat aber beobachtet, dass gerade deutsche Besucher meist sehr achtsam darin sind, wie sie sich in Auschwitz verhalten. „Sie sind sehr konzentriert, gut vorbereitet und stellen viele, detaillierte Fragen. Ich kann mir vorstellen, dass es eine gewisse Überwindung und auch Mut braucht, als Deutscher Auschwitz zu besuchen. Es ist vielleicht der schwierigste Ort, an den man als Deutscher gehen kann. Und wenn Deutsche hier weinen, sind diese Tränen auch eine Art, sich für die Taten ihrer Väter oder Großväter zu entschuldigen.“ Einmal, nach einer Führung, sprach ihn ein fast 70-jähriger Mann aus der Nähe von Potsdam an. Er glaubte, seinen Vater auf einem der ausgestellten Fotos erkannt zu haben. Sie sahen sich das Bild gemeinsam an. Es zeigte einen SS-Offizier in Birkenau bei der Selektion eines Gefangenentransportes ungarischer Juden im Jahr 1944. Das Gesicht des Mannes, der über Leben und Tod entschied, war nicht wirklich gut zu erkennen, die Schwarzweißaufnahme war stark verschwommen. Dennoch war sich der ältere Herr so gut wie sicher. Gleich nach dem Krieg hatte sein Vater die Familie verlassen und war Pastor geworden. Vater und Sohn hatten sich kaum gekannt. Völlig verstört verließ der deutsche Rentner die Gedenkstätte. „Drei Monate später“, erzählt Jacek, „kam er noch einmal mit einem Familienalbum, um die Bilder zu vergleichen. Es gab keinen Zweifel: Es war sein Vater. Der Mann war schwer erschüttert und fassungslos, dass dieser am Massenmord in Auschwitz beteiligt gewesen war.“
Manchmal geschehen an grausamen Orten aber auch schöne Dinge, sogar in Auschwitz. Und Jacek ist es wichtig, den Besuchern auch von diesen kleinen Momenten der Menschlichkeit zu erzählen, wenn die Gefangenen das wenige Essen miteinander teilten, ein Stück Brot organisierten oder einen erschöpften Mithäftling versteckten, um ihm einige Stunden Schlaf zu ermöglichen. Jacek spricht viel von Hoffnung, wenn er über das Leben im Lager spricht. „Es sind Geschichten, die eine andere Perspektive zeigen, die der Überlebenden. Die Begegnungen mit Menschen, die Auschwitz überlebt haben, sind unglaublich wichtig für mich und meine Arbeit, um Zusammenhänge zu verstehen und Details zu erfahren. Und sie sind natürlich ein großer Moment der Freude. Einmal konnte ich einen Überlebenden in Schweden besuchen. Als 15-Jähriger war er nach Auschwitz deportiert worden. Er erzählte mir, dass er sofort gespürt habe, dass er diesen Ort nicht lebend verlassen würde. Als bei einer Gefangenenzählung ein SS-Offizier einen Handwerker suchte, der sich mit einer speziellen Maschine auskennen musste und für diese Arbeit sofort in ein anderes Lager verlegt werden sollte, meldete sich der Junge, ohne zu wissen, was überhaupt verlangt wurde. Dieser Moment rettete ihm das Leben. Der Offizier glaubte ihm. Mit dem nächsten Transport verließ der Junge Auschwitz. Seine Mutter kam noch an den Zaun gelaufen und winkte. Etwas versteckt ballte er seine Faust, um ihr zu zeigen, dass er es geschafft hatte. Er sah seine Mutter zum letzten Mal. Und dennoch bestärken mich solche Erzählungen in meiner Arbeit, da jemand überlebt hat. Es ist wunderbar, den Besuchern auch solche Geschichten erzählen zu können.“
Jacek hat sein Büro in einer der Häftlingsbaracken in der Nordostecke des Stammlagers, Block 2. Es sind dunkle, schwere Räume. Im Regal und auf dem Schreibtisch stapeln sich Bücher über das Überleben im KZ, Tagebücher von ehemaligen Häftlingen, Erinnerungen. „Diese Nähe ist wichtig“, sagt Jacek, „so verliere ich den Kontakt zur Geschichte nicht. Ich arbeite in den Räumen, wo die Geschichte passiert ist. Und so vergesse ich das nicht. An keinem Tag. In keiner Sekunde.“
Es ist spät, die Gedenkstätte wird bald schließen. Der blaue Himmel über Oświęcim bekommt warme, wirre Farben. Spatzen haben sich auf den Stacheldraht gesetzt. Ein junges Pärchen schlendert den Schotterweg zwischen den Baracken entlang. Die Frau und der Mann halten sich an den Händen. An jedem anderen Ort würde man diesen Augenblick romantisch nennen. Wie in einer Allee ist der breite Weg von Pappeln gesäumt. Häftlinge haben die Bäume vor fast siebzig Jahren gepflanzt. Heute sind sie dreißig Meter hoch, schnurgerade in den Himmel gewachsen. Wie stumme Zeugen stehen sie da. Doch es braucht nicht viel Wind, und man kann die Blätter rauschen hören.
Textauszug. Lesen Sie die ganze Geschichte in Neues vom Nachbarn – 26 Länder, 26 Menschen.