Vor mehr als zwanzig Jahren hatte Susanne Wiigh-Mäsak ihre Lebensaufgabe gefunden: Kompostieren. Lange verwirklichte sie eine Idee, die schon bald die Welt verändern könnte. Eine Geschichte darüber, was aus uns wird, wenn wir nicht mehr sind. Gestern, am 1. September 2020, ist Susanne in Schweden gestorben.
Susanne Wiigh-Mäsak weiß, was sie nach ihrem Tod einmal werden will: Ein schneeweiß blühender Rhododendron der Sorte Cunningham White. Ein immergrüner Busch, der auch die eisigen Winter an der schwedischen Westküste übersteht. Eine Pflanze, die humusreiche und gut durchlüftete Böden bevorzugt. Sehr robust, sehr anpassungsfähig. „So wie ich“, sagt die blonde Frau mit dem langen, geflochtenen Zopf und den blauen Augen. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie ist Biologin. Sie hat selber einen Cunningham White in ihrem Garten. Vor Jahren hatte sie einen Ableger von einer Englandreise mitgebracht. Mittlerweile ist er riesig, trotz Temperaturen von manchmal minus zwanzig Grad – der Rhododendron hat überlebt.
Susanne ist 1956 geboren. So alt ist sie also noch gar nicht. Wenn alles gut läuft, hat sie noch viele Jahre vor sich. Und dennoch hat sie schon heute eine genaue Vorstellung davon, was mit ihrer sterblichen Hülle einmal passieren soll. Sie soll zu Humus werden und Nährboden für neues Leben sein. Susanne ist keine Träumerin. Sie ist Wissenschaftlerin und interessiert sich vor allem für die Realität. Sie hat eine neuen Weg der Bestattung entwickelt, der den Tod umweltfreundlicher machen soll – und etwas schöner, wenn so etwas geht. Neben Vergraben und Verbrennen soll es schon bald eine dritte Alternative geben: Kompostieren. Die menschlichen Überreste verrotten nicht jahrzehntelang im Boden oder verbrennen in kürzester Zeit zu Asche, sie werden innerhalb eines Jahres zu Erde.
Etwas verkürzt funktioniert das so: Der tote Körper wird zunächst auf minus 18 Grad heruntergekühlt und anschließend in flüssigem Stickstoff auf minus 196 Grad schockgefroren. Er ist nun brüchig wie Glas und zerfällt durch Vibration in ein Granulat. Das Wasser wird entzogen. Zahnfüllungen und andere Metalle werden mit einem Magneten herausgefiltert. Nun kann das organische, geruchsfreie Pulver in einer kompostierbaren Urne in etwa vierzig Zentimeter Tiefe bestattet werden. Und wer möchte, kann seine Überreste mit der Saat eines Baumes, einer Blume oder eines Cunningham White beerdigen lassen. „Für viele ist der Tod nicht mehr als das Gegenteil von Leben“, sagt Susanne, „ich wollte aber eine Alternative, die den Menschen Hoffnung geben kann, die den Tod – so traurig er auch ist – mit einem positiven Gedanken verbindet und vielleicht sogar etwas die Angst vor dem großen Nichts nimmt. Wenn man sagen kann, dass aus Großvater eine Blume geworden ist, dass er wieder neues Leben gegeben hat, kann man das leichter verstehen und sogar einem Kind erklären. Das ist der Gedanke des natürlichen Kreislaufes, das ist das ewige Leben. Und der Tod bekommt einen Sinn. So kann der eigene Körper zu einem Dankeschön an die Natur werden, für das Leben, das wir gelebt haben.“
Mehr als 3000 Inseln bilden die zersprengte Küstenlinie von Bohuslän, der Provinz nördlich von Göteborg. Tiefblau ist der Seitenarm des Stigfjords, der Lyr von ihrer großen Schwester Orust trennt. Kaum 200 Meter sind es bis auf die andere Seite. Die Überfahrt mit der kleinen Autofähre dauert keine Minute. Und dennoch ist es wie so oft, wenn man eine Insel betritt: Der Weg dorthin – ganz gleich wie kurz er auch ist – ist wie der Gang durch eine Schleuse in einer andere Welt. Denn wo Lyr liegt, endet die Welt von Google Street View oder überfüllten Supermarktparkplätzen. Wer hier wohnt, lebt etwas außerhalb der Zeit. Es ist ruhig. In manchen Momenten so ruhig, als hätte jemand den Ton abgedreht. Tage auf Lyr können wie Träume sein. Viel Fels, von Eiszeiten gerundet. Viel Wiese, von Stürmen gefegt. Einige Wäldchen in der Inselmitte. Die Holzhäuser und Scheunen sind in Bullerbürot gestrichen. Kaum Verkehr, viel Platz. Wer auf Lyr seine Kindheit verbringt, der wächst behütet auf.
Wie vereinbart, wartet Susanne vor ihrem kleinen Bioladen, in dem sie Lebensmittel und selbst angebautes Gemüse verkauft. Wir werden uns nicht verfehlen können, hatte sie am Telefon gesagt. Jeder, der nach Lyr kommt, muss an ihrem Laden vorbei. Jeder wird irgendwann hier einkaufen. Es gibt nur diese Straße. Es ist das einzige Geschäft. Knapp 200 Menschen wohnen das gesamte Jahr über auf der Insel. In den warmen Monaten sind es fünfmal so viele. Dann bildet sich an manchen Tagen sogar eine kleine Warteschlange an der Kasse. „Reichen drei Leute? Oder wie viele sind eine Schlange?“ Susanne lacht, was ein bisschen wie ein Kind klingt, wenn es gekitzelt wird. Die Grübchen auf ihren Wangen und die leichten Krähenfüße verraten, wie viel und wie gerne sie wirklich lacht. Ihre Stirn verschwindet vollständig hinter den blonden Haaren, die in einer geraden Linie über ihren Augen enden. Susanne sieht aus, wie man sich die liebenswürdige Mutter in den Lindgren-Romanen immer vorgestellt hat, nur etwas lustiger. Sie trägt eine helle Latzhose, dazu ein pinkes Oberteil. Aus einer der vielen Hosentaschen gucken Arbeitshandschuhe, die die Farbe der Erde angenommen haben. Sie kommt gerade von der Gartenarbeit. Sie sagt: „Im Garten kommen mir die besten Ideen.“
Ende der Siebziger war sie mit ihrem Mann aus Göteborg nach Lyr gezogen. Sie hatte gerade ihr Biologiestudium hinter sich. Peter wollte eine Muschelzucht aufbauen. Das hatte noch keiner in der Gegend versucht. Doch die Voraussetzungen im Schärengarten von Bohuslän waren ideal dafür: sehr klares Wasser, immer in Bewegung. Das Geschäft mit den Delikatesstierchen wurde ein Erfolg. Susanne pendelte damals noch täglich mit der Fähre ans Festland. Sie hatte eine Stelle als Umweltinspektoren in einer nahe gelegenen Fabrik für Petrochemie gefunden. Ihre Aufgabe war es, auf Sicherheitsdefizite und mögliche Risiken für die Umwelt hinzuweisen. Und sie befasste sich nun auch verstärkt mit Kompostierung und mit den Alternativen, die diese bot: Sie testete Teller und Tüten aus Maisstärke. Nach 15 Jahren brauchte sie eine Veränderung. 1996 kündigte sie. Ein Jahr später eröffnete sie ihren Bioladen. Sie hat ihn Grönskan genannt, Grüner.
Susanne zeigt jetzt den Kompost hinter ihrem Geschäft. Den zeigt sie jedem, der sie besuchen kommt. Denn damit hat alles angefangen. Es ist eine luftige Holzbox, die sie selbst konstruiert hat. Massive Bretter, dazwischen breite Spalten, ein feinmaschiger Draht als Innenverkleidung – fertig. Küchen- und Gartenabfälle werden darin in zwei bis drei Wochen zu Erde, während andere Kompostbehälter viele Monate brauchen. Sie öffnet den Deckel und nimmt eine Hand voll Humus heraus. Sie riecht daran. „Stinkt nicht, ist gute Erde.“ Man kann einen Komposthaufen mit dem menschlichen Körper vergleichen, sagt Susanne. Beide brauchen Sauerstoff, genügend Feuchtigkeit und die richtige Temperatur, um Leben zu können. Unter diesen Bedingungen können die fleißigen Mikroorganismen hervorragende Arbeit leisten und organisches Material zu Erde werden lassen. „Es ist ein gutes Klima in dieser Kiste. Ich könnte darin überleben, wenn mir jemand regelmäßig etwas zu essen bringen würde.“
Textauszug. Lesen Sie die ganze Geschichte in Neues vom Nachbarn – 26 Länder, 26 Menschen.
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