Im Südwesten Frankreichs wächst eine einzigartige Sorte Chili: Piment d’Espelette – das pikante Herz der baskischen Küche. Chilibauern wie André Curutchet lieben das Gefühl, wenn die Schote zurückbeißt. Sie sagen: „Diese Frucht steht für unser ganzes Volk.“
An diesem Tag hängen die Wolken wie schmutzige Laken am Himmel. Sie drängen sich dicht an dicht, als ob ihnen kalt ist. Manch bleigrauer Bauch wölbt sich bis auf die Hügel hinunter, die hier zwischen Atlantik und Pyrenäen noch so sanft geschwungen und voller Felder sind. Nur vereinzelt sind ein paar Höfe in Sicht. Manchmal reißen die Schüsse der Jäger Löcher in die Stille, wenn sie Ringeltauben und Rebhühnern auflauern. Meist aber sind nur die Glocken der Schafe zu hören, die aus der Ferne auf den satten Wiesen wie weiße Flusen auf einem grünen Wollpullover aussehen. Es ist einer der letzten Erntetage. André Curutchet steht auf seinem Acker und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. Er hat es eilig, vor dem ersten Frost muss die letzte Schote gesammelt sein. Auch seine Tochter Virginie, der Schwiegersohn und ein Freund helfen mit. In schnurgeraden Reihen wachsen die fleischigen Früchte, die längst so schwer sind, dass die Pflanzen an mancher Stelle durchhängen und mit Holzpflöcken gestützt werden müssen. Ein mit Strom geladener Draht auf Knöchelhöhe rahmt das kleine Feld ein und soll vor den gefräßigsten Feinden schützen: Kaninchen. „Sie lieben es scharf“, sagt André.
Der 65-Jährige ist Chilibauer – nicht in Mittelamerika oder Asien, sondern im Südwesten Frankreichs. „Im Westen der Atlantik, im Osten die Pyrenäen, im Süden Spanien, im Norden Frankreich“, präzisiert André, „dazwischen wir, Euskadi“, wie die Basken ihr Land am Golf von Biscaya nennen. Gut eine halbe Stunde südöstlich des sonnenverbrannten Badeortes Biarritz liegt das Örtchen Espelette, wo keine 2000 Menschen leben und das mit seinen mit Kalkmilch geweißten Steinhäusern, den roten Ziegeldächern und den dunkelbraunen Fensterläden und Holzbalkonen so typisch für die baskische Provinz Labourd ist. Das Wappen des Dorfes ziert eine rote Schote auf weißem Grund. Denn Espelette ist die Heimat einer ganz besonderen Würze, dem pikanten Herz der baskischen Küche: Piment d’Espelette, einer weltweit einzigartigen Chilisorte.
André ist ein kleiner Mann mit einer eher sanften Stimme, kommt er aber auf seine Schoten zu sprechen, wird es schlagartig laut. Der gesamte Körper ist nun in Bewegung. Seine Hände wirbeln durch die Luft, wenn er ihre Form beschreibt. Seine Worte sind voller Leidenschaft, wenn er ihre Farbe mit den „Lippen einer wunderschönen Frau“ vergleicht. „Unsere Schoten sind freundlich“, sagt er. Denn der Chili der Basken ist lange nicht so scharf wie seine indische oder mexikanische Verwandtschaft. Bei Gourmetköchen ist Piment d’Espelette für seine aromatische Note beliebt. „Wir nehmen ihm die Schärfe“, erklärt André. Denn sind die zinnoberroten Früchte, die bis zu 14 Zentimeter lang werden können, erst einmal geerntet, getrocknet und zu Pulver zermahlen, verlieren sie an Bissigkeit.
Je länger sie trocknen, desto mehr entwickeln sie ihr komplexes Aroma. Das rotorange Pulver duftet fruchtig-süß nach Tomaten und Paprika und leicht rauchig nach gebratenen Bohnen, frisch gemähtem Heu und getoastetem Brot. Im Mund entfaltet sich das Prickeln erst langsam, wird aber nie böse. „Alle Sinne werden verführt“, schwärmt André, für den Piment d’Espelette viel mehr als ein Gewürz ist. Er ist das tiefrote Symbol für die Einzigartigkeit der baskischen Kultur. Seeleute brachten Mitte des 17. Jahrhunderts die Pflanze aus Mexiko mit nach Frankreich. Doch nur in Espelette und Umgebung fand die Feuerfrucht das ideale Klima, leicht säurehaltige Böden, eine hohe Luftfeuchtigkeit durch die Nähe zum Atlantik und ausreichend warme Sommertage.
„Diese Frucht steht für unser ganzes Volk“, sagt André, der mit seiner schwarzen Baskenmütze und dem, was er sagt, so vortrefflich das Klischee des stolzen Basken bedient. Er spricht viel von Treue und Tradition. „Ein Baske verkauft sein Haus und sein Land nicht“, sagt er zum Beispiel. Also überlegte er damals, was auf dem seit Jahren brach liegenden Familienacker geschehen sollte, den er als ältester Sohn geerbt hatte. Fast 40 Jahre hatte er als Entwickler für landwirtschaftliche Maschinen gearbeitet. Auf seine alten Tage wollte er noch einmal etwas anderes versuchen, sagt er. 2002 entschied er sich für den Anbau des milden Scharfmachers. Und obwohl er mit einer halben Tonne pro Jahr zu den Kleinproduzenten zählt, ist seine Ware begehrt. Die Qualität ist hervorragend, die Lage seines schmalen Streifens – einem Südhang mit viel Sonne – optimal. Der Chili braucht es warm und trocken, er muss lange reifen. Er sagt: „Grün sind die Hügel, weiß sind unsere Häuser und rot sind die Schoten – das sind die Farben des Baskenlandes.“
Laurent Bessouat trägt ein T-Shirt, auf dem ein übergroßer Chili mit einem lustigen Gesicht gedruckt ist. „Made in Espelette“, sagt die Schote in einer Sprechblase. Auch Laurent könnte das sagen, auch er ist in Espelette geboren. Der Vater seines Vaters hat schon Piment d’Espelette gepflanzt. „Bei uns im Norden ist es das wichtigste Lebensmittel“, sagt der 33-Jährige, „es hat den schwarzen Pfeffer ersetzt.“ Wenn die Menschen in Espelette vom Norden sprechen, meinen sie den französischen Teil, erzählen sie vom Süden, ist von der spanischen Seite des Baskenlandes die Rede. Beide Seiten träumen davon, eine vereinte Nation zu sein. In Frankreich aber macht man sich der Basken wegen keine großen Sorgen. Zwar fordern sie die Unabhängigkeit der drei Provinzen Soule, Basse-Navarre und Labourd. Doch verglichen mit ihren unruhigen Brüdern und Schwestern auf spanischem Gebiet, sind sie eine stille Minderheit. Laurent sagt: „Der Süden hat uns lange Probleme bereitet.“Denn auch in Spanien wächst Chili. Auch wenn dieser nicht so schmackhaft wie der französische Nachbar ist, hat man ihn dort noch bis in die späten Neunziger Jahre unter dem Namen Espelette verkauft. „So war an Qualität nicht zu denken. Alles wurde zu billigen Preisen auf den Markt geschmissen“, blickt der junge Landwirt zurück, „wir standen kurz vor dem Aus.“
Textauszug. Lesen Sie die ganze Geschichte in Neues vom Nachbarn – 26 Länder, 26 Menschen.