Dies ist die unglaubliche Geschichte von Stuart Drummond, der als Maskottchen eines englischen Fußballclubs bekannt wird und heute der wichtigste Mann seiner Heimatstadt ist. Warum die Menschen von Hartlepool einen Affen zum Bürgermeister wählten.
Stuart Drummond weiß, dass es eine Geschichte wie seine in der humorlosen Welt der Politik gar nicht geben dürfte. Es ist eine Geschichte, die noch nicht einmal in Träumen passiert und die so unglaublich klingt, dass viele sie auch heute – zehn Jahre später – noch immer nicht glauben mögen. Und auch Stuart Drummond selbst hat in manchen Momenten einen etwas ungläubigen Blick, wenn er erzählt, wie er Bürgermeister von Hartlepool wurde, einer Hafenstadt mit 90.000 Menschen in der nordöstlichsten Ecke Englands zwischen Newcastle und Middlesbrough.
An diesem Abend feiern die Anhänger von Hartlepool United das 3:1 gegen Gillingham, es ist ein verdienter Sieg in einem schwachen Spiel der dritten englischen Liga. Im „Gillen Arms“, einer Stammkneipe der „Pools“, sitzt Stuart Drummond. Auf dem Tisch steht ein Pint dunkles Stout, zwischen seinen Fingern qualmt eine Zigarette. „Eigentlich war alles bloß ein Scherz“, beginnt er, „es sollte nicht mehr als ein bisschen Werbung für unseren völlig unspektakulären Club sein.“ Als nach nur wenigen Tagen aber die ganze Stadt über ihn sprach und er täglich Interviews geben musste, wurde mehr daraus. „Ein Affe will Bürgermeister werden“, titelten die regionalen Tageszeitungen. Die großen Blätter des Landes und einige Fernsehsender zogen nach. „Da kam was ins Rollen“, blickt Stuart zurück, „ich musste gar nicht viel tun.“ Oft unterbricht er sich selbst mit einem Lachen, das seine schiefen Schneidezähne entblößt, gefolgt von einem leichten Kopfschütteln. Dass ausgerechnet er nun der wichtigste Mann seiner Heimatstadt ist und jährlich über 100 Millionen Pfund verwaltet, rund 110 Millionen Euro. Dass ausgerechnet er jetztfünfmal so viel wie zuvor im Callcenter verdient, 5000 Euro im Monat. Dass ausgerechnet er von seinen Freunden nun mit „Hallo, Herr Bürgermeister!“ begrüßt wird und Menschen ihn ansprechen, die er gar nicht kennt. Der 37-Jährige steht auf, nimmt ein Bild von der Wand und legt es auf den Tisch. Er sagt: „Das bin ich mit Alan Shearer.“ Das Foto zeigt den früheren englischen Nationalstürmer, wie er einem dümmlich grinsenden Plüschschimpansen mit Segelohren und heraushängender Zunge, der in einem viel zu großen Fußballtrikot steckt, die Hand schüttelt.
Die Geschichte beginnt an einem lausig kalten Januarabend bei einem Auswärtsspiel im 25 Kilometer entfernten Preston. Sein Freund Ronnie erzählt ihm, dass die Stelle des Clubmaskottchens frei geworden ist. Der Schauspielstudent, der bislang im Kostüm gesteckt hat, hat keine Lust mehr. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht. „Am nächsten Tag habe ich mich vorgestellt“, erzählt Stuart. Er ist der einzige Bewerber und bekommt den Job. Von nun an wird er sich drei Jahre lang jedes Wochenende als „H’Angus the Monkey“ verkleiden. Zu Beginn muss er das Gehen üben und stolpert häufiger noch über seine riesigen Füße. Ein batteriebetriebener, im Kopf eingebauter Ventilator sorgt nur bedingt für Frischluft unter dem dicken Affenfell. Vor selten ausverkauften Rängen und meist weniger als 5000 Zuschauern tanzt er durch das Stadion eines Vereins, den zwei Spielklassen von den Namen trennt, die jeder kennt. Nur alle zehn Jahre spielt mal ein Club aus der Premier League an der Clarence Road im Victoria Park, der kleinen Arena im Industriegebiet nördlich des Zentrums. Große Titel haben die Pools in ihrer über 100-jährigen Vereinsgeschichte keinen einzigen feiern können.
Stuart aber geht regelrecht auf in seiner neuen Aufgabe als Spaßmacher. 20 Pfund Taschengeld bekommt er pro Spiel. Er liebt es, die Leute zum Lachen zu bringen. Er ist ein ziemlich großer Mann, mit einem etwas tapsigen Gang. Er ist der perfekte Pausenclown. „Der Affe hat mir gut getan“, sagt er, „ich habe mir immer etwas Neues für meine kleine Show ausgedacht.“ Jeder englische Fußballverein bis in die fünfte Liga hat ein Maskottchen, meist ein riesiges Plüschtier, das auch bei Auswärtsspielen die mitgereisten Fans in Wallung bringen soll. Als der Affe aus Hartlepool während der Halbzeitpause in Blackpool anstößige Hüftschwünge an einer aufblasbaren Puppe zeigt, wird er aus dem Stadion geschmissen. Ein anderes Mal, in Scunthorpe, springt er eine Ordnerin an, macht genauso eindeutige Bewegungen und fliegt wieder raus. Sein Ruf verbreitet sich schnell. Die Zuschauer lieben ihn für seine ausgefallenen Ideen, die Clubs hassen ihn. Bei zwölf Vereinen bekommt er Stadionverbot, doch seine Bekanntheit wächst.
„Natürlich waren wir betrunken“, erzählt Stuart, als er gemeinsam mit Freunden auf die Idee kam, die sein Leben verändern sollte. Sie haben hier im Pub, an diesem Tisch gesessen, sagt er und tippt mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte vor ihm. Dann habe jemand gesagt, dass endlich mal etwas passieren müsse, so trostlos könne es jedenfalls nicht weiter gehen – mit dem Team, mit dem Club und mit der ganzen Stadt sowieso. In zwei Wochen stand die Wahl des Bürgermeisters an. Und wie solche Momente eben so sind, hat dann jemand H’Angus als Kandidaten vorgeschlagen, sagt Stuart und grinst. „Das hatte einen Hauch von Anarchie. Niemand glaubte daran, aber die Idee war geboren.“ Und dann schickten sie ihn in den Wahlkampf. Eine ausgeklügelte Kampagne gab es nicht. Als Affe verteilte er Bananen in der Fußgängerzone. In einigen Schaufenstern der Stadt hingen Plakate mit dem Foto des Maskottchens und seinem Wahlslogan: „Free Bananas For Schoolchildren.“ Meist wurde er zu offiziellen Veranstaltungen gar nicht erst eingeladen. „Die dachten, ich hätte sowieso keine Chance“, erzählt er, „das dachte ich ja auch.“ In den Wettbüros wurde ein Wahlsieg des Affen mit einer Quote von 10.000:1 gehandelt. Zehn Pfund setzten er und seine Freunde, doch die Buchmacher zogen das Angebot zurück. „100.000 Pfund hätten wir gewonnen“, ärgert sich Stuart heute noch.
Der Abend vor der Wahl: Alle fünf Kandidaten sind zu einem Streitgespräch vor Publikum in die Stadthalle eingeladen. Auch der parteilose Affe soll erstmals kommen dürfen. Stuart aber hat ein Problem: Zur selben Zeit tritt Hartlepool United zum wichtigsten Spiel des Jahres bei Cheltenham Town an. „Ich habe lange überlegen müssen“, erinnert er sich. Dann fährt er nach Cheltenham. Ins Rathaus schickt er seinen jüngeren Bruder, der das Fehlen entschuldigt und einen kleinen Stoffaffen ans Rednerpult setzt, den er noch schnell im Fanshop gekauft hat. Mein Bruder, der kann leider nicht kommen, der unterstützt unsere Stadt an anderer Stelle. Das Spiel geht 4:5 verloren, die Wahl aber, die wird gewonnen. Am 2. Mai 2002 sammelt H’Angus, der Affe, 52,1 Prozent der Stimmen. „Wir wären fast geplatzt vor Lachen“, sagt Stuart, „es hat alles gepasst. Viele wollten eine Veränderung oder wählten mich aus Protest, andere waren Fans von United.“ Seine Kandidatur war nicht mehr als ein Witz gewesen, doch nun war ein 28-jähriger Callcenter-Mitarbeiter, der auch mal vier Jahre auf einem Kreuzfahrtschiff gekellnert hatte, das jüngste Stadtoberhaupt Großbritanniens. Und er war ein Spiegelbild seiner Wähler – an Politik nicht interessiert, von Politikern gelangweilt. Es war der Tag, an dem Hartlepool weltweit bekannt wurde. Ein paar Wochen lang lachte man über das Städtchen, wo jetzt ein Affe regierte. Dass der Affe auch vieles verändern sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen.
Textauszug. Lesen Sie die ganze Geschichte in Neues vom Nachbarn – 26 Länder, 26 Menschen.
„Oliver Lück hat die Menschen, denen er begegnet ist, genau beobachtet. Er schreibt klassische Reportagen und vermischt Beobachtetes, Erzähltes und Wissenswertes zu feinen Geschichten. Facettenreich und unterhaltsam“
(Hamburger Abendblatt)