Neuschwanstein ist ein Ort der Extreme: Am Tag schieben sich 8000 Menschen durch das Schloss. Am Abend legt sich eine große Stille über den Palast. Markus Richter kennt beide Gesichter, fünf Jahre hat er im Märchenschloss gewohnt. Heute ist er einer der Burgverwalter. Er sagt: „Erst ohne Publikum wird das Schloss zu einem magischen Ort.“
Morgens gegen sieben kann es passieren, dass man vor dem Schloss Neuschwanstein ganz alleine ist. Der Märchenmythos schläft jetzt noch. Im nächsten Augenblick aber können schon 60 Südkoreaner auftauchen. Sie kichern, fotografieren und sind nach fünf Minuten – auf ein Zeichen der Reiseleiterin hin – wieder verschwunden. Und dann ist man wieder alleine. Und da steht dieses Schneewittchenschloss mit seinen Zuckerbäckertürmchen und man fragt sich kurz, ob das gerade wirklich passiert ist. Und dann kommen 60 Japaner um die Ecke, kichern und fotografieren. Und nach fünf Minuten reckt die Reiseleiterin einen langen Stab in die Luft, an dessen Ende ein rosa Delfin baumelt. Das ist das Zeichen: Die Japaner folgen dem Delfin.
Markus Richter kennt das Gefühl, von vielen Menschen umringt zu sein. Viele Jahre hat er die Touristen durch den Königspalast geführt. Jetzt sitzt er in einem Besprechungsraum im Südflügel. An der Wand hängen Grundrisse vom Schloss und seinen 80 Zimmern. Auf der Fensterbank steht ein Miniaturmodell. Wer durch das Fenster über den Innenhof blickt, kann dort den Strom von Besuchern sehen, der sich fortwährend durch die Gänge schiebt. In 15 Sprachen werden die Führungen mittlerweile angeboten. In 30 Minuten wird jede Gruppe durch 30 Räume geschleust. Alle fünf Minuten startet eine neue Tour. Im Sommer passieren täglich 8000 Menschen die Drehkreuze, im Winter sind es rund 2000. Insgesamt 1,34 Millionen waren es in 2010. Kein anderes deutsches Bauwerk wird so sehr mit Sehnsüchten und Romantik verknüpft. Die Leute lieben den wildromantischen Kitsch, der am Abend, wenn die Sonne untergeht und das bayrische Wolkenkuckucksheim in ein zartes Rosa taucht, seinen Höhepunkt erreicht.
Seit 1994 ist Markus Richter Kastellan auf Neuschwanstein, einer der Schlossverwalter, die den Führungsbetrieb organisieren, die Konzerte und Ausstellungen veranstalten, die den Laden am Laufen halten. Er sagt: „Neuschwanstein hat zwei Gesichter, es gibt den Trubel am Tag und die Ruhe am Abend.“ Und dann sagt er einen Satz, den ein Kastellan eigentlich nicht sagen sollte, da er ja ausnahmslos Werbung für sein Schloss machen sollte – er sagt: „Erst ohne Publikum entfaltet das Schloss seine ganze Schönheit.“ Wenn die letzten Gäste gegangen sind und er das große Eingangstor abschließt, legt sich eine große, erschöpfte Stille über die Burg. Wenn keine Fotoapparate mehr klicken. Wenn kein Laut mehr durch die meterdicken Mauern dringt. Wenn von der Pöllatschlucht ein Wind herauf zieht und mit einem sanften Heulen durch den Schlosshof streift – „dann ist man weit weg von der Wirklichkeit“, sagt Markus Richter, „dann ist das ein wirklich magischer Ort.“
Er ist in Sichtweite zum Schloss aufgewachsen. Sein Elternhaus liegt in Alterschrofen, unten am Schwansee. Oft haben Touristen bei den Richters im Garten gestanden und fotografiert. Australier, Amerikaner oder Chinesen haben geklingelt und nach dem Weg oder anderen Dingen gefragt. „Die ganze Welt stand bei uns vor der Tür.“ Erst mit 18 aber war er selber das erste Mal hier oben. Er brauchte einen Ferienjob, es wurden Schlossführer gesucht. „Es ging ums Geld verdienen, Neuschwanstein interessierte mich gar nicht“, gesteht er, „aber so fing das alles an.“ Fast 14 Jahre hat er dann als Guide gearbeitet – zunächst nebenher zum Studium, dann in Vollzeit.
Auch heute noch kommt manchmal der Schlossführer in ihm durch, wenn er erzählt, wie aus dem bayrischen Märchenprinzen Ludwig dem Zweiten ein Schattenkönig wurde, wie der Bau des Schlosses Millionen von Goldmark verschlang, wie 14 Holzschnitzer vier Jahre an den Verzierungen des Schlafzimmers arbeiteten. Dann ruft er Daten und Fakten ab und verfällt für einen Moment in einen monotonen Singsang. Einmal hat er eine Privatführung für Bill Clinton und Edmund Stoiber machen dürfen. Das ganze Schloss ist damals gesperrt worden, höchste Sicherheitsstufe – für Clinton, Stoiber und Richter. Zwei Stunden sind die drei durch den Palast geschlendert. „Der Clinton war echt nett“, erzählt er, „er hat mich noch auf einen Kaffee eingeladen, aber kein Geld dabei gehabt. Einer seiner Adjutanten hat dann bezahlt.“
Lange hatte Markus Richter eine sichere Methode, Menschen in ungläubiges Staunen zu versetzen. Wenn er zum Beispiel auf Partys nach seinem Wohnort gefragt wurde, erntete er meist zweifelhafte Blicke, da jeder dachte, er hätte einen Scherz gemacht, wenn er sagte: „Ich lebe auf Schloss Neuschwanstein.“ Fast fünf Jahre wohnte er hier zur Miete. Vier Zimmer, 130 Quadratmeter, traumhafte Lage. Es brauchte einige Monate, bis er sich an das Leben im Schloss gewöhnt hatte. In den ersten Wochen war er jeden Abend auf Entdeckungsreise. Jeder Winkel wurde erkundet. „Ich war aufgeregt wie ein kleiner Junge“, erzählt er. Und weil es damals noch keinen Sicherheitsdienst gab, musste er auch nachts mit der Taschenlampe los und nachsehen, wenn irgendwo Alarm ausgelöst worden war.
„Alle drei Wochen gab es einen Fehlalarm. Doch nie war wirklich etwas.“ Nur einmal entdeckte er bei seiner Schließrunde am Abend eine Frau in einem Abstellraum. Die vielleicht 50-Jährige hatte sich dort versteckt, um einmal im Schloss zu übernachten. Nachts klingelten regelmäßig Leute. Manche campierten sogar vor dem Eingang. Irgendwann stellte er die Klingel einfach ab. Und wenn sich bei Wetterumschwung die alten Holzdielen dehnten und knallten, als hätte jemand eine schwere Tür zugeschlagen, saß er vor Schreck senkrecht im Bett. Einmal hat er es dann ganz genau wissen wollen und sich selbst eine Postkarte aus Tunesien geschickt. An das große, weiße Schloss in Bayern hat er drauf geschrieben, mehr nicht. Die Karte ist angekommen.
Wer mehr über Markus Richter erfahren will, muss mit ihm auf die Schlosstürme steigen. Das sind seine Lieblingsorte. Er sagt: „Dieser Wechsel der Perspektive tut mir gut. Hier oben komme ich auf frische Gedanken.“ Er steht an der Brüstung des wuchtigen Viereckturms, der – wie alle drei Türme – für Besucher gesperrt ist. „Berge, Kühe, Dörfer“, sagt er, „das ist das Allgäu.“ Im Norden der Forggensee. Im Osten der Tegelberg. Im Süden der über 2000 Meter hohe Säuling und die Pöllat, die sich 45 Meter tief in die Schlucht stürzt, wo sie zu einem freundlichen Flüsschen wird. Im Westen der Alpsee, der Schwansee, das Schloss Hohenschwangau und dahinter das Zackenpanorama der österreichischen Voralpen. Markus Richter ist gerne hier oben, wegen der Aussicht – aber vor allem weil der Trubel dann dort unten ist und nicht an ihn rankommen kann. Mittlerweile meidet er die Massen. „Ich bin etwas menschenscheu geworden“, sagt er, „durch meine Arbeit mit den vielen Touristen in den engen Räumen.“
Manchmal träumt er, dass er von vielen Menschen umgeben ist. Manchmal entdeckt er im Schlaf Räume, in denen er noch nie gewesen ist. Und früher hat er nachts auch regelmäßig seinen Text aufgesagt, den er bei den Führungen immer erzählt hat. Seine Frau hat ihn dann geweckt: „Markus, das war alles bloß ein Traum.“ Die beiden haben sich auf Neuschwanstein kennen gelernt. Auch sie ist Schlossführerin gewesen. Markus Richter sagt über sich selbst, dass er kein Romantiker ist, aber den Heiratsantrag hat er ihr trotzdem hier oben auf dem Turm gemacht. „So eine Möglichkeit musste ich natürlich nutzen.“ Auch seinen 30. Geburtstag feierte er damals mit 100 Gästen im Schloss. Als der Letzte ging, standen die ersten Besucher vor der Tür. Und sein erster Sohn wäre beinahe auf Neuschwanstein zur Welt gekommen. Es war Januar und ein Meter Neuschnee gefallen. „Ich musste noch schippen“, erzählt er, „da hätten wir es fast nicht rechtzeitig nach unten geschafft.“
Er schaut hinunter in den Innenhof und sieht die Menschen, wie sie in der langen Schlange vor dem Einlass warten. Wenn so viele Leute aus so vielen Ländern aufeinandertreffen, kann es zu lustigen Begegnungen kommen. Wie an einem der Aussichtspunkte etwas unterhalb des Schlosses, wo ein weißbärtiger Bayer mit Trachtenhut und Lederhose steht. Er hat eine kleine Schatulle aufgestellt und in mehreren Sprachen Danke auf ein Schild geschrieben. Dazu hat er ein Foto geklebt, das ihn neben einer Asiatin zeigt. Ein Japaner macht einen Schnappschuss und wirft ein paar Münzen in die Schachtel. „Dommo Arreegatto“, brummt der Bayer. „Des passt scho“, sagt der Japaner in perfektem Bayrisch, „i bin in Münchn geboan.“
Markus Richter geht nun die Stufen des Turms wieder hinunter. Unten angekommen muss er an einer Stelle kurz durch die Schlange der Besucher hindurch. Es sind nur wenige Sekunden. Er steht jetzt zwischen den Menschen und muss einige Meter im Strom mitschwimmen. Dann aber zieht er seinen Generalschlüssel aus der Hosentasche und öffnet die nächste Tür. Er geht hindurch. Die Menschen gucken ihm hinterher. Die Tür fällt zu. Er wirkt erleichtert.
Zum Nachhören: Markus Richter im Interview (Auszug)
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