Frank Dähling ist Sammler und Naturschützer, Volkskundler und Widerstandskämpfer. Seit 1975 lebt er in einer alten Wassermühle im Kraichgau. Heute gilt sein Hof als europäisches Kulturdenkmal und hat sich zu einer ökologischen Insel für seltene Pflanzen und fast 50 Vogelarten entwickelt. Er sagt: „Die Zivilisation schafft Oasen, wo früher keine Wüste war.“
Wer mit Frank Dähling ein Interview führt, muss damit rechnen, nach zwei Tagen Besuch über zwölf Stunden Gespräch auf Band zu haben. Frank Dähling ist jemand, der gerne redet. Er weiß auch viel zu sagen: Er könnte zum Beispiel erklären, wie er zu seinen über 20.000 Büchern gekommen ist. Er könnte vieles über die deutsche Studentenbewegung der sechziger Jahre verraten. Darüber, wie er in Frankreich und Spanien gelebt hat. Oder wie er das Leben seiner Vorfahren bis in das Jahr 531 zurückverfolgen konnte. Doch davon soll diese Geschichte nicht erzählen – es soll um eine Insel gehen, die nicht von Wasser umgeben ist. Und um eine Sammlung von über 800 Mausefallen.
Wer den Innenhof der Raußmühle betritt, muss ein schweres, schmiedeeisernes Tor aufschieben. Die Scharniere quietschen, als wären sie seit Jahrhunderten nicht geölt worden. Es ist der passende Ton für das, was dahinter zu entdecken ist. Vor bald 700 Jahren soll das Mühlengehöft gebaut worden sein. Uralte Bäume umgeben die Mauern der ehemaligen Wassermühle, die westlich der 20.000-Einwohner Stadt Eppingen zwischen Heilbronn und Karlsruhe liegt. Seit über 40 Jahren lebt Frank Dähling gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin auf dem Hof. Mit Hund und Kater, Gänsen, Enten und Hühnern. Mit 43 Schafen und acht Ziegen. Die Pullover werden zwar schon seit Jahren nicht mehr selbst gestrickt, aber viele Nahrungsmittel wie Käse, Wurst und Milch, Eier oder Brot selbst hergestellt. Frank Dähling sagt: „Wir versuchen, möglichst wenige Maschinen einzusetzen und bewusst mit der Natur zu leben.“ Insgesamt sind es sechs Hektar Land, die der bald 70-Jährige mit einfachsten Mitteln bewirtschaftet. Das Heu wird mit der Sense geschnitten. Als zusätzliches Futter holt er von einem Supermarkt die Lebensmittel, die weggeworfen werden sollen. Täglich sind das säckeweise Brot und Kisten voll mit Gemüse und Obst.
Wie eine Insel liegt die Raußmühle im Meer der Monokulturen, sie ist umgeben von konventionell genutzten Äckern. Auch das Eppinger Gewerbegebiet ist längst auf Sichtweite herangewachsen. Frank Dähling sagt: „Obwohl wir hier zivilisiert leben, wird die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation bei uns besonders deutlich.“ In den letzten vier Jahrzehnten hat er viel dafür getan, dass sein Hof zu dieser ökologischen Insel werden konnte. Er hat über 600 Bäume gepflanzt, darunter seltene Arten wie Speierling oder Elsbeere. Er hat Pflanzen wieder heimisch gemacht, darunter Wild- und Heilkräuter wie Herzgespann oder Beinwell. Er hat Teiche angelegt. Biotope sind entstanden. Entlang der Elsenz, die im Rücken der Mühle fließt und die über Jahrhunderte das Mühlrad angetrieben hatte, hat sich eine intakte Aulandschaft entwickelt. Vor allem hat Frank Dähling aber eines getan: Er hat die Natur größtenteils sich selbst überlassen. Das Ergebnis ist eine überwältigende Artenvielfalt an Tieren und Pflanzen. Pirol, Nachtigall, Eule, Turmfalke, verschiedene Arten Kleiber, Spechte und Baumläufer, Zilpzalp, Zeisig und Zaunkönig. Im Umkreis von 50 Metern um den Hof haben sich 48 Vogelarten angesiedelt. Insgesamt hat man 465 Pflanzen gezählt. So ist zumindest der Stand der letzten Zählung von vor 15 Jahren. Wie viele es heute sind, weiß der gebürtige Heidelberger nicht genau. Die Zahlen sind ihm auch gar nicht so wichtig.
Man glaubt zu sehen, dass Frank Dähling viel nachgedacht in seinem Leben. Seine Stirn zieren beeindruckende Falten – Denkfalten. Er hat lange, weiße Haare und trägt einen langen, weißen Vollbart. Er sieht aus wie ein gealterter Widerstandskämpfer. Er ist ein in die Jahre gekommener Widerstandskämpfer. Und wenn er in seinem wild wuchernden Garten beim Frühstück sitzt, hebt er manchmal tatsächlich noch drohend die Faust, wenn wieder einmal eines der riesigen Erntemonster vorbeirauscht und man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. „Das ist die moderne Landwirtschaft“, ruft er in das Dröhnen des Mähdreschers hinein. „Und dort hinten“, jetzt deutet er auf das benachbarte Maisfeld, wo alles in Reihe wächst, „da endet die ökologische Vernunft.“ Frank Dähling ist das, was man ein Unikum nennt, ein Solitär, der seine Macken und Marotten hat und auch auslebt, der beharrlich Widerstand leistet gegen den Triumph der Industrialisierung.
1334 war das Jahr, in dem die Raußmühle das erste Mal urkundlich erwähnt wurde. 1958 wurde der Mahlbetrieb eingestellt. Im Laufe der Jahrhunderte sollen mehr als 30 Müllerfamilien hier gelebt haben. 1974 erfährt Frank Dähling durch einen Bekannten von einer alten Wassermühle im Kraichgau. Kurze Zeit später fährt er das erste Mal nach Eppingen und erlebt eine Enttäuschung. Die Mühle wird als Schrottplatz genutzt und ist mit Stacheldraht umzäunt. Die Autowracks sind in drei Etagen übereinander gestapelt. Autobatterien und Öltanks laufen aus und sickern in die Erde. Ein verfallenes, verwildertes Gehöft. Eine Ruine. Frank Dähling pachtet den Hof trotzdem. Er beginnt aufzuräumen und zu renovieren. Meter für Meter trägt er das vergiftete Erdreich ab. Ein Glücksfall: Darunter entdeckt er das ursprüngliche Natursteinpflaster der Mühle. Er lässt einen Experten vom Amt für Denkmalpflege kommen. 1976 wird die Raußmühle zum Kulturdenkmal erklärt. Nun ist es möglich, Fördergelder zu beantragen. Dähling kauft den Hof. Er sagt: „Alles, was ich je an Geld verdient oder geerbt habe, habe ich in diese Mühle gesteckt.“
Heute gilt die Eppinger Raußmühle als Europäisches Kulturerbe und beherbergt ein Museum für die Geschichte ländlichen Lebens. Mehrmals die Woche führt Frank Dähling Besuchergruppen über den Hof. Es ist wie ein Rundgang durch eine verschwundene Zeit. Er zeigt ihnen die Technik der Mühle, das so genannte Planetarium mit seinen Zahnrädern, das er mit viel Geduld restauriert hat. Es gibt eine spätmittelalterliche Rauchküche, eine Alchemisten-Stube und Einblicke in die verschiedensten Handwerke. Auf drei Etagen ist die Scheune gefüllt mit Exponaten aus den Jahrhunderten. Werkzeuge und Spielzeuge, magische Gegenstände und Möbel. Münzen, Schädel und mittelalterliche Küchengeräte. Wanderstöcke, Türklopfer und Sonnenuhren. Ein faszinierendes Sammelsurium.
Es gibt Menschen, die sich problemlos von Dingen trennen können. Frank Dähling gehört nicht dazu. Über die Jahrzehnte hat er weit über zehntausend Alltagsgegenstände zusammengetragen und so für die Nachwelt erhalten. In Scheunen und auf Speichern entdeckt, von fliegenden Altwarenhändlern und auf Auktionen gekauft: Er hat gerettet, was vom Fortschritt bedroht war. „Mir sind keine Details zu klein“, sagt er. „und zu jedem der Gegenstände kenne ich die Geschichte. So bringe ich die Dinge zum Sprechen.“ Die Führungen können zwei Stunden dauern oder auch sieben. Es kommt darauf an, wie Frank Dähling in Form ist. Seine besondere Leidenschaft gilt der Sammlung von über 800 Mausefallen, die älteste aus dem tiefsten Mittelalter. „Eine der wichtigsten Erfindungen, die der Mensch je gemacht hat“, sagt er, „ohne wären wir verhungert.“ Drahtkastenfallen und Wippbrettfallen, Schlagbügelfallen und Mäuseguillotinen – einen Teil seiner Sammlung schickt er regelmäßig auf Reisen in Museen. „Wenn ich ehrlich bin, sind es meine Mausefallen, die mich in den letzten zehn Jahren über Wasser gehalten haben.“ Wenn er irgendwann die Zeit finden sollte, wird er ein Buch über die Kulturgeschichte der Mausefalle schreiben.
Es gibt Menschen, die nennen Frank Dähling einen Querkopf und die Raußmühle eine Insel der Rückständigkeit. Andere sprechen von einem Gegenentwurf zur industrialisierten Welt. Und wiederum andere sehen diesen Ort als gelebtes Gesamtkunstwerk. „Soll jeder, wie er will“, sagt Frank Dähling, betont aber eines: „Die Mühle ist gewiss kein Idyll, dafür müssen wir zu sehr für den Erhalt kämpfen. Es ist der Versuch, ein winziges Stückchen Erde aus dem Kampf gegen die Natur herauszuhalten.“ Und dann lehnt er sich zurück, nippt an seinem Rotwein und zitiert Berthold Brecht: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“
Dies ist ein Textauszug. Lesen Sie die ganze Geschichte in Buntland – 16 Menschen, 16 Geschichten.
Zum Nachhören: Frank Dähling im Interview (Auszug)
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