Irland ist das Land der Legenden und Mythen, der Fabeln und Märchen. Und Clare Murphy kennt viele von ihnen – sie erzählt Geschichten und lebt davon. Sie reist um die Welt. Und überall baut sie Brücken zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Sie sagt: „Ich halte den Pinsel, jeder einzelne aber malt seine eigene Geschichte in Gedanken.“
Diese Geschichte beginnt mit einem Wunsch. Es ist ein warmer Tag in der westirischen Hafenstadt Galway. Clare Murphy steht vor einem Straßencafé und setzt ihre Sonnenbrille ab. Die tief stehende Sonne blendet sie, sie kneift die Augen zusammen. Als sie sich an das Licht gewöhnt hat, entdeckt sie auf einem der Brillengläser eine ausgefallene Wimper. Vorsichtig klemmt sie das Härchen zwischen Daumen und Zeigefinger. Auch in Irland steht eine Wimper für einen Wunsch. Und auch Clare glaubt an die Magie dieses Moments. Sie schließt die Augen und pustet die Wimper vom Finger. Obwohl sie ihren Wunsch nicht verraten darf, da er sonst nicht in Erfüllung gehen wird, verrät diese kleine Szene viel über die junge Irin. Clare sagt: „Die schönsten Geschichten entstehen aus den einfachsten Ideen.“
Clare hat eine sichere Methode, Menschen in ungläubiges Staunen zu versetzen. Sie braucht bloß ihren Beruf zu nennen. Dann ist es einen Moment lang still, wenn sie sagt: „Ich erzähle Geschichten.“ Die Leute wissen nicht so recht, ob sie das ernst nehmen können. Also stellen sie Fragen wie: „Davon kannst du leben?“ Und schnell bemerken sie, dass die Frau mit den kurzen, braunen Locken und den großen, braunen Augen tatsächlich sehr gut erzählen kann. Sie werden neugierig, wollen wissen, was für Geschichten das sind, die Clare erzählt. Und wo. Und wem. Und Clare antwortet: „Legenden und Sagen, irische Mythen und Volksmärchen. Für Kinder und Erwachsene. In Theatern, Museen oder Schulen. In Irland, den USA oder Schweden. Überall auf der Welt, wo ich eingeladen werde.“
In ihren Erzählungen gibt es leidenschaftliche Romanzen, es strömt das Blut, es geht um den ewigen Kampf von Gut und Böse, um Liebe, den Tod, um Eifersucht und Wahnsinn. Clare sagt: „Viele haben noch immer das Bild des weißhaarigen, pfeiferauchenden Mannes im Kopf, der vor einem Ofen sitzt und aus seinem Leben berichtet.“ Clare wird jetzt kurz zu diesem Greis. Sie spricht mit tiefer, verschrobener Stimme, kaut auf einer imaginären Pfeife und pafft zwischen den Worten kleine Wölkchen in den Raum. „Das Image des Geschichtenerzählers ist etwas verstaubt“, sagt sie, „und dann sehen die Leute mich und sind überrascht.“
Clare ist eine zierliche Frau. An diesem Tag trägt sie ein rotes Kleid mit großen, weißen Punkten, eine blaue Strickjacke und roten Lippenstift. Sie sieht aus, als wäre sie einem Film entsprungen. Sie erinnert an Audrey Tautou, die französische Schauspielerin, die in Die fabelhafte Welt der Amélie als herzensgute Fee ihre Nachbarn verzaubert. Clare und Amélie sind sich ähnlich. Auch wenn sie keine naive Träumerin ist, mag auch Clare die kleinen Dinge, die leisen Töne, die scheinbar unbedeutenden Augenblicke am Rande. Sie mag den Geruch im Sommer, kurz bevor es regnet. Sie mag mit einem Buch im Bett sitzen, wenn es draußen stürmt. Sie mag den Moment, wenn Chili auf der Zunge zu prickeln beginnt. Was Clare nicht mag: Wenn die nasse Jeans an ihrer Haut klebt. Wenn Leute zu viel reden, aber eigentlich nichts zu sagen haben. Wenn der Zahnarzt ihr Wattebäuschchen in den Mund klemmt. Sie sagt: „Das Gefühl von Baumwolle in meinem Mund macht mich wahnsinnig.“
Clare sitzt auf dem Fußboden ihres kleinen Büros. Um sie herum liegen viele, gelbe Erinnerungszettel auf dem Teppich verstreut. Sie lacht. Sie sagt: „Zum Glück sieht es in meinem Kopf nicht so aus.“ An der Wand hängt eine Weltkarte. Das halbe Jahr ist sie auf Reisen. Sie fährt auf Erzählfestivals nach Wien, Oslo oder Guadalajara in Spanien. Gerade plant sie eine achtwöchige Tour durch Clubs und Theater in Kanada und Alaska. Sie gibt Workshops für Schauspieler, Lehrer und angehende Erzähler. Und in ihren Regalen stapeln sich Bücher über irische Mythologie und Märchen vom anderen Ende der Welt. Doch nicht jede Geschichte kann Clare auch erzählen. „Sie muss mich berühren“, sagt sie, „sonst kann ich sie nicht zum Leben erwecken.“
Sie beschreibt die Personen und Dinge so detailliert, dass vor den Augen der Zuhörer Gesichter und Landschaften entstehen. Man sieht den alten Mann vor sich sitzen, wie er die Stirn in Falten zieht. Man sieht das weiße Pferd durch die düstere Nacht galoppieren. Man sieht den kleinen Jungen mutig gegen ein einäugiges Monster kämpfen. Es ist wie in einem Erzähltraum. Jetzt spricht sie mit der zerbrechlichen Stimme einer alten Dame, im nächsten Moment flucht sie virtuos vor sich hin wie ein raubeiniger Seemann. Jetzt klingt sie durchdringend und beschwörerisch, dann heiter und beschwingt. Sie weiß, wie sie ihre Stimme heben und den Ton verändern muss. Sie weiß, wann Pausen passen, damit Spannung entsteht. Und wenn Clare böse guckt, bekommt man tatsächlich Angst vor ihr.
Sie genießt die Momente der Atemlosigkeit, wenn hundert Kinder mit offenen Mündern und großen Augen vor ihr sitzen. Wenn man die Menschen im Publikum schlucken hören kann. Wenn auch Erwachsene wieder wie Kinder schauen und alles um sich herum vergessen. Clare weiß, dass ihre Erzählkraft wirkt, wenn die Zuhörer beginnen, durch sie hindurchzugucken. Dann betreten sie eine bunte Welt, die von sagenhaften Mischwesen, wundersamen Tieren und seltsamen Menschen bevölkert ist. Es geht auf eine Reise durch Traumlandschaften, wo Druiden und Elfen leben, wo keine Geschichte zu fantastisch ist, um sie nicht zu erzählen. Und manchmal würde Clare gerne in jeden der Köpfe mal kurz hineingucken können. „In jedem würde es anders aussehen“, glaubt sie, „ich halte ja nur den Pinsel, jeder einzelne aber gibt durch seine Phantasie die Farben hinzu. Jeder malt seine eigene Geschichte.“
Clares Geschichte beginnt 1976 in Dublin. Dort ist sie geboren, dort hat sie zwanzig Jahre in einem beschaulichen Ort an der Küste gelebt. Howth ist ein ehemaliges Fischerdorf auf einer Halbinsel nahe der Hauptstadt und ein wunderbarer Platz für eine Kindheit. Es gibt einen verwunschenen Wald, eine jahrhundertealte Burg, einen mysteriösen Leuchtturm und das unendliche Meer. Ihr Vater ist Schauspieler am Theater. Ihre Mutter liest leidenschaftlich, das Haus ist gefüllt mit Büchern. Und Clare ist das Mädchen, das zu viel redet und jeden so lange nervt, bis man ihr eine Geschichte erzählt. Tell me a story! Tell me a story!! Oft lauscht sie ihrem Vater, wenn er in endlosen Monologen seine Texte lernt. Schon als Vierjährige sitzt sie im Publikum, wenn er auf der Bühne steht. Clare wächst inmitten von Geschichten auf.
Mit 18 beginnt sie zu reisen. Mit 20 geht sie in die USA. Sie spielt Theater, arbeitet in Bars und Büros, probiert jeden Job, den sie kriegen kann. Fünf Jahre lebt Clare in Denver, Colorado. Dann aber vermisst sie Irland. Sie zieht nach Galway, dort lebt auch ihre ältere Schwester Kathy. Als Clare eine Geschichtenerzählerin aus Nordirland kennen lernt, weiß sie endlich, was sie will. „Und irgendwie ist das von Anfang an klar gewesen“, sagt sie heute, „das Erzählen ist mir in die Wiege gelegt worden.“ Sie liest viel. Sie lernt viel von anderen Erzählern. Sie erzählt für Freunde. 2006 hat Clare ihre ersten Auftritte in Schulen und Büchereien. Sie beginnt als Professionel Storyteller. „Es war so, als hätte ich einen alten Mantel angezogen, der mir schon immer gepasst hatte.“
Zwei Dinge sind es, die eine Unterhaltung mit Clare zu einer angenehmen Sache machen. Sie kann gut erzählen und sie hört auch gerne zu. Sie sagt: „Wer erzählen will, muss zuhören können.“ Einmal im Monat veranstaltet sie in einem kleinen Theater einen Abend der Geschichten. Jeder darf erzählen. Alle wollen zuhören. Im Januar 2006 hatte sie die Idee. Sie brauchte keine Werbung machen. Es sprach sich schnell herum. Beim ersten Mal saß sie mit sechs Freunden am Tisch ihres Wohnzimmers. Beim nächsten Mal waren es schon zehn, dann 16, dann 25. Und irgendwann war die ganze Wohnung voll. Storynights wurde größer und größer. Sie mussten umziehen, zunächst in die Räume eines Yogastudios, dann in das Blue Teapot Theatre. Die 90 Plätze sind fast immer besetzt.
Manchmal kommen Menschen aus dem Publikum zu ihr und verraten, dass sie sich nicht mehr so gefühlt haben, seit sie fünf waren. Große, stämmige Männer, deren Augen noch feucht sind. Kleine, zerbrechliche Frauen, die nicht wussten, dass es auch Geschichten über starke Frauen gibt. Und Clare sagt: „Vielen ist das Leben zu schnell geworden. Sie sind überfordert und glauben, keine Zeit mehr zu haben. Und genau dafür brauchen wir Geschichten. Sie bauen Brücken zwischen der Realität und der Phantasie. Mit Geschichten erklären wir uns die Welt. Einer erzählt, der andere hört zu.“ Sie sagt: „Es ist ganz einfach – wie mit dem Wunsch und der Wimper.“
Textauszug. Lesen Sie die Geschichte in voller Länge in Neues vom Nachbarn – 26 Länder, 26 Menschen, erschienen im Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Zum Nachhören: Clare Murphy erzählt, warum in jeder Geschichte immer auch ein bisschen Wahrheit steckt (in Englisch).
Erster Teil.
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Zweiter Teil.
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