Dies ist die Geschichte einer 23-jährigen Kuh, einem Schwein, das immer im Mittelpunkt stehen will, und 50 Hühnern, die alle Bärbel oder Elvira heißen. Und es ist die Geschichte von Jan Gerdes und Karin Mück, die einen Bauernhof zu einem Altersheim für Tiere gemacht und eine Entscheidung getroffen haben: Landwirtschaft ja, Tierwirtschaft nie wieder.
Weit im Nordwesten Niedersachsens, wenige hundert Meter bevor das Meer beginnt, wächst Gras und sonst nicht viel. Der Boden des Wesermarschlandes ist weit über 1000 Jahre alt und durch die Landwirtschaft längst ausgezehrt. Das Einzige, was hier noch halbwegs funktionieren kann, ist die Haltung von Milchvieh. Es sind satte Weiden mit weitem Blick bis zum Horizont, der hier ein mit Gras bewachsener Deich ist. Grüne Wiese, flaches Land – vermutlich ist Butjadingen, die kleine Halbinsel zwischen Wilhelmshaven und Bremerhaven, der schönste Platz, den eine Kuh sich vorstellen kann. Vielleicht sogar ein Ort, wo sie alt werden wollte, wenn man sie ließe.
Inmitten dieser Flachlandidylle gibt es tatsächlich einen Ort, wo Kühe nicht gemolken und Pferde nicht geritten werden, wo Hühner ihre Eier behalten dürfen und Schweine nicht zu Wurst werden sollen – wo Tiere nicht gehalten werden, weil sie einen Nutzen haben müssen, sondern einfach leben dürfen. Anderswo heißen vergleichbare Projekte Gnadenhof. Jan Gerdes und Karin Mück finden Lebenshof schöner. Oder Kuhaltersheim, wie sie selber sagen. Die beiden Mittfünfziger leben hier mit 35 Kühen, zwei Pferden, acht Katzen, fünf Hunden, vier Schweinen, 50 Hühnern, acht Enten, vier Gänsen und zwei Dutzend Kaninchen. Viele der Tiere haben sie aus Zuchtanlagen und Legebatterien befreit oder Versuchslaboren abgekauft. Mastercard, Zwergenmann, Gisela, Herr und Frau Karger – alle Tiere bekommen einen Namen. Aus zwei von Millionen Mastschweinen werden Else und Erna. Beide groß wie Badewannen, beide mit einer Rippe mehr, als die Natur es vorgesehen hat – hinzugezüchtet für die Fleischtheke im Supermarkt. Und nur bei den vielen Hühnern muss es mit dem Namen einfacher gehen: Die Weißen heißen alle Bärbel, die Rotbraunen Elvira. Nur das eine mit der besonders tiefen Stimme haben sie Frau Klemm genannt, nach der kettenrauchenden Staatsanwältin aus dem Münsteraner Tatort.
Anfangs mussten sie die schreckhaften Hühner noch bei jedem Schritt begleiten. Sie waren zwar an Menschen gewöhnt, Wind und Regen aber waren ihnen fremd. Die Enten mussten erst schwimmen lernen, sie kannten kein Wasser. Und auch Manuela, eine Kuh aus dem Versuchslabor einer Universität, hatte vier Jahre lang nur gekachelte Räume gesehen. Sie wurde mit einem Loch im Bauch, so große wie das Bullauge einer Waschmaschine, nach Butjadingen gebracht. Diese Öffnung, eine so genannte Pansenfistel, wird den Tieren seitlich herausgeschnitten. Es gibt einen Schraubverschluss, durch den man in den Pansen der Kuh greift und den Mageninhalt herausnimmt und untersucht. So kann Futter entwickelt werden, das die Milchkühe noch effizienter werden lässt. Heute hat Manuela nur noch ein kleines Loch, aus dem hin und wieder Pansensaft herausspritzt, oder es zischt, da Gase entweichen. Das Geld für die nächste Operation wird noch gesammelt.
Jan Gerdes und Karin Mück sitzen am Esstisch in ihrer Küche. Sie erzählen jetzt, wie das damals anfing, mit dem Altersheim für nutzlos gewordene Nutztiere. Als Jan Gerdes zu Beginn der achtziger Jahre den Milchbauernhof seiner Eltern übernahm, war es für ihn Alltag, Kühe zu melken und ihnen die Kälber wegzunehmen, um die Leistung möglichst hoch zu halten. So funktioniert moderne Milchwirtschaft heute noch. Doch schon damals konnte er es nicht einfach überhören, wenn nachts die von ihren Kälbern getrennten Mütter jammerten und auch der Nachwuchs vor Angst schrie. Er spürte, dass er etwas ändern musste. Er verbesserte die Haltungsbedingungen, sorgte für mehr Platz im Stall und für mehr Auslauf. Schrittweise stellte er auf biologisch dynamische Wirtschaftsweise um. Das verstand damals keiner der anderen Landwirte. „Der Gerdes spinnt!“, hieß es bloß. Auch als er 1988 als Erster eine Windenergieanlage auf sein Land baute, erntete er nur Unverständnis. „Jetzt ist er völlig verrückt geworden!“
Doch so sehr er es auch versuchte, den Tieren ein angenehmeres Leben zu bereiten, er konnte die Regeln der Nutztierhaltung nicht ändern. Und er fühlte sich immer schlechter mit dem, was er tat. Es brachte ihn fast um den Verstand. Bis sein Entschluss feststand: Er wollte keine Tierhaltung mehr. 2001 zog er einen Schlussstrich. Er verkaufte die Herde, damals fast 80 Kühe und Rinder. Und er wollte auch den 150 Jahre alten und 40 Hektar großen Hof aufgeben, auf dem er geboren und aufgewachsen war. Als er die Herde in den riesigen Hänger trieb, der sie in den Schlachthof bringen sollte, wurde ihm fast schlecht vor Schmerz. Doch zehn Tiere passten nicht mehr hinein. „Das war die Geburtsstunde“, sagt er heute, „in diesem Augenblick habe ich diesen zehn Rindern versprochen, dass sie auf dem Hof bleiben dürfen – egal, was auch passiert.“ Er schwor sich, dass keines der Tiere jemals in einen Schlachttransporter steigen würde. Landwirt ja, Tierwirt nie wieder.
Eine Alternative hatten Jan Gerdes und Karin Mück damals noch nicht. Zwei Ferienwohnungen und die Verpachtung von Pferdekoppeln hielten sie gerade so über Wasser. Doch eines war klar: Sie wollten keine Kompromisse mehr machen. Karin Mück: „Der erste Schritt war: Weg vom Fleisch. Doch auch für Vegetarier werden Tiere getötet. Also mussten wir noch einen Schritt weiter gehen und Veganer werden.“ Jan Gerdes: „Es ist ganz einfach: Wenn man nicht will, dass Tiere geschlachtet werden, darf man auch keine Milch trinken. Milch trinken, heißt Kälber schlachten. Die Kuh bekommt ein Kalb, es wird ihr weggenommen. Dann wird sie ausgemolken, bis ihr Körper am Ende ist. Und dann wird sie geschlachtet.“
Jan Gerdes ist ein schmächtiger und eher ruhiger Mann. Man kann ihn sich nicht wütend vorstellen. Er spricht leise, ohne aufgeregte Gesten. Er sagt, er findet es schlimm, dass die Menschen immer gedankenloser werden. Er sagt: „Es macht mich traurig, dass der Mensch so eine Bestie ist und Tiere hält, um sie auszubeuten.“ Als er den elterlichen Hof gerade übernommen hatte, wurde Karin Mück verhaftet. Groß zu diskutieren und immer nur zu reden, war nie ihr Ding gewesen. Sie wollte handeln. Und sie tat es. Sie brach in Labore ein, befreite Tiere und zerstörte die Einrichtungen. 1983 wird sie bei einer dieser Aktionen verhaftet und „wegen Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung“ fünf Monate in Isolationshaft gesteckt. Deutschlands Angst vor Terroristen hatte hysterische Züge angenommen damals. „Ich war ausgeliefert wie ein Tier im Käfig“, erinnert sie sich. Diese Erfahrung konnte sie dennoch nicht von ihrer Mission abbringen: dem Tierschutz.
Mück und Gerdes lernen sich im Jahr 2001 in einem Kurort kennen. Beide sind ausgebrannt, beide wollen einen Neuanfang. Er, über 20 Jahre Milchbauer. Sie, über 20 Jahre Krankenschwester in der Psychiatrie. Dann kommt der Moment, in dem die Herde abgeholt wird. Zehn Rinder bleiben und sie überlegen, wie sie den Hof umgestalten können. Sie stecken ihr gesamtes Geld in das Projekt und gründen eine Tierschutzstiftung. Sie sind auf Spenden angewiesen. Man kann Patenschaften für Tiere übernehmen. Zum Beispiel für Samuell, einen heute 18 Monate alter Jungbullen, den Tierschützer in einer Garage eines Restaurants entdeckt hatten. Der Besitzer des Lokals wollte ihn mit Essensresten mästen, um Fleisch für seine Speisekarte zu bekommen.
Jetzt kommt ein lautes Scharchen aus dem Stall. Rudi hält Mittagsschlaf. Er ist ein blindes, sehr eigenwilliges Schwein. Er war mal das Jubiläumsgeschenk zum 25-jährigen Bestehen eines Autohauses – mit rosa Schleife. Doch irgendwann war Rudi zu groß, und da wollte ihn keiner mehr. Prinz Lui dagegen will immer im Mittelpunkt stehen. Er ist ein ehemaliges Zirkusschwein. Und Lore ist die Älteste auf dem Hof. „Keine Kuh in Deutschland ist älter“, sagt Jan Gerdes. Lore ist 23. Kühe können 30 Jahre alt werden – doch das weiß kaum einer. „Da draußen“, wie Karin Mück es nennt, wenn sie das Leben außerhalb des Hofes meint, wird eine Kuh selten älter als fünf. Und manchmal, wenn sie auf einer der Weiden nebenan die schlachtreifen Jungbullen des benachbarten Bauern stehen sieht, fragt sich Karin Mück, „was wir hier überhaupt machen mit unseren 35 Kühen, die da draußen in weniger als einer Minute geschlachtet wären. Sie sagt: „Dass da draußen Millionen Tiere nur leben, um getötet zu werden, muss man ausblenden. Wir leben hier außerhalb der Gesellschaft und haben uns ausgeklinkt. Wobei das bei uns nicht die heile Welt ist. Die Tiere haben ein schlimmes Leben hinter sich, viele sind krank und müssen täglich medizinisch versorgt werden.“ Rund 5000 Euro brauchen sie jeden Monat für Futter, Medikamente und den Tierarzt, eher mehr. Alleine die Einstreukosten für die Ställe summieren sich jeden Winter auf über 10.000 Euro. Und auch wenn es jedes Jahr knapp wird, sind die Spendengelder mittlerweile so konstant, dass ein Azubi eingestellt werden konnte. Er wird zum Tierpfleger ausgebildet. Und auch das bald 25 Jahre alte Windrad dreht sich immer noch und weht etwas Geld in die Kasse.
Täglich gibt es eine Anfrage, ob neue Tiere aufgenommen werden können. Mal sind es 15 Gallowayrinder, dann einzelne Pferde oder Ziegen und Schafe. Ganze Herden. Heute ist es ein Schwein aus dem Saarland, Miss Piggeldy. „Vielleicht könnte ja noch ein Schwein passen. Vielleicht vertragen sich die Schweine aber untereinander auch nicht. Schweine sind sehr sensible Tiere.“ Jan Gerdes und Karin Mück werden wie immer mit sich ringen müssen. Eigentlich ist der Hof schon zu voll. Sie wissen das. Jan Gerdes aber sagt: „Wir werden uns das trotzdem mal überlegen mit dem Schwein.“
Zum Nachhören: Karin Mück und Jan Gerdes im Interview (Auszug)
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