Anders Mogensen lebt in Frankfurt, ist gebürtiger Däne und trampt jedes Jahr viele tausend Kilometer durch Europa. Er besucht Musikfestivals und finanziert sich die Tickets mit dem, was andere wegschmeißen: Er sammelt Pfandgut. In einem Sommer hat er mal 12.000 Kilometer vom Polarmeer bis nach Spanien zurückgelegt.
Speckig und zerfranst baumeln die bunten Eintrittsbänder an den Handgelenken von Anders Mogensen. Elf Stück hat er dieses Jahr gesammelt, elf Musikfestivals in drei Monaten: „Das war mein Sommer“, sagt er, setzt die Schere an und schneidet die Bändsel ab. Er hortet sie wie Trophäen, legt sie zu den anderen in eine Schublade an seinem Schreibtisch. Bis oben hin voll ist die, so voll, dass Anders sie kaum zu kriegt.
Erst seit wenigen Stunden ist er zurück in seiner kleinen Wohnung im Frankfurter Westend. Hier lebt der Anfang-30-Jährige, hier studiert er neun Monate im Jahr. Den Rest ist er irgendwo in Europa unterwegs – wo genau es hingehen wird, weiß er selbst nicht, wenn er losfährt. Nun sitzt er an seinem Küchentisch und sieht sehr müde aus. Es ist Anfang Oktober, in einigen Tagen sind die Semesterferien vorbei. Er sagt: „Ich komme gerade aus meinem anderen Leben und muss nun erst einmal ankommen.“
Von Ende Juni an ist der gebürtige Däne mehr als drei Monate lang unterwegs gewesen. Fast 12.000 Kilometer ist er durch Dänemark, Norwegen, Schweden, Deutschland, Frankreich und Spanien getrampt. Zuletzt ist er auf einem kleinen, spanischen Open Air in Tobarra südlich von Albacete gewesen, hat dann noch paar Tage im Zelt am Strand verbracht, sich Valencia angesehen und einen Zwischenstopp in Barcelona eingelegt, ehe er es in vier Tagen per Anhalter nachhause geschafft hat. Anders sagt: „Das mache ich jedes Jahr so.“ Ein kleiner Rucksack für seine Klamotten, Zelt und Schlafsack, dazu sein Tagebuch, in das er hunderte, europäische Events mit Datum eingetragen hat – das ist alles, was er dabei haben muss.
Anders sieht aus, wie man sich einen freundlichen Wikinger vorstellt. Blonde Haare, blaue Augen, Bart. Groß und kräftig, dazu einen gemütlichen Bauch. Das Klingeln seines Mobiltelefons passt zu ihm: Metallica – Nothing Else Matters. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit James Hetfield, dem Sänger der Metalband. Auf einem Foto, das auf einem der Festivals entstanden ist, trägt Anders eine schwere Vorhängekette um den Hals. Er schreit, als ob es kein Morgen gäbe. Seine schulterlangen Haare fliegen wild durcheinander, seine Hände zeigen das bei Festivalbesuchern beliebte Zeichen des Gehörnten: ausgestreckter Zeigefinger mit ausgestrecktem kleinen Finger. Ungläubig betrachtet er die Aufnahme, ein bisschen, als schäme er sich dafür. Vom entschlossenen Anders, der sich im Sommer wochenlang selbst vergisst, ist im Herbst kaum noch etwas übrig. „Wahnsinn“, sagt er und grinst, „das bin ich? An diesen Moment kann ich mich gar nicht wirklich erinnern. Manchmal ist das alles ein bisschen unberechenbar, was auf Festivals so passiert.“
Es riecht nach Grillwurst, Bier und verschwitzten Menschen. Es stinkt nach Urin, Müll und frisch Erbrochenem. Es schmeckt nach Staub. Die Schlangen vor den Toiletten sind lang. Das Essen kommt aus der Dose. „So sieht das Leben auf einem Festival aus“, sagt Anders, „und überall sieht man glückliche Gesichter – die Leute lieben diesen Ausnahmezustand, weil sie wissen, dass er nicht von Dauer sein wird.“ Doch Anders reichen ein paar Tage ohne Tabus nicht. Seit 2006 reist er mindestens zwei Monate im Jahr von Festival zu Festival. Zehn schafft er immer. In einem Jahr waren es sogar mal 14.
Meist sehen seine Touren wie die Drehbücher eines wirren Roadmovies aus – einmal quer durch Europa bitte. „Oft muss ich spontan entscheiden, wo es als nächstes hingehen soll und welches Open Air zu erreichen ist“, erklärt er. Für gewöhnlich wartet er bis zum Ende des Sommersemesters, ehe er aufbricht, in diesem Jahr aber hat er wieder einmal sein Heimat-Open-Air im dänischen Roskilde besuchen wollen – mit knapp 115.000 Menschen eines der größten europäischen Festivals, rund 40 Kilometer westlich der dänischen Hauptstadt. Dort hat er viele Freunde getroffen, ganz in der Nähe leben seine Eltern.
Es folgten das Norway Rock Festival im südnorwegischen Kvinesdal und das Tromso Open Air, 350 Kilometer nördlich des Polarkreises. „Ich hatte großes Glück, im Süden lernte ich jemanden kennen, der bis Trondheim fuhr und dort jemanden kannte, der mich bis Tromso mitnehmen konnte. 2200 Kilometer in zwei Tagen.“ Vom Polarmeer ging es weiter nach Schweden zum Storsjöyran, einem Open Air mit 30.000 Menschen in Östersund, Anfang August dann nach Uppsala zu einem Reggae-Festival. Nach dem Oya-Festival in Oslo, dem Highfield südlich von Erfurt und dem Chiemsee Reggae legte Anders eine Woche Pause bei Freunden in Freiburg ein, ehe er nach Straßburg zum Interferences, zu zwei Festivals in Spanien und schließlich nachhause trampte.
Wenn er erzählt, wie er einmal sechs Stunden in einem Kofferraum mitgefahren ist, weil vorne kein Platz mehr gewesen ist, dass er ständig Menschen kennen lernt, die ihn nicht nur mitnehmen, sondern auch bei sich auf dem Sofa übernachten lassen und das Abendessen und das Frühstück teilen, klingt das völlig gewöhnlich, wie Dinge, die jeden Tag passieren. „Diese Hilfsbereitschaft ist aber natürlich etwas Besonderes“, betont er, „ohne diese Hilfe würde ich meine beiden Hobbys, Musik und Reisen, nicht verbinden können.“ Und meist hält er sich an LKWs, „so schaffe ich mehrere hundert Kilometer am Stück und die Fahrer freuen sich über etwas Gesellschaft“.
Für Essen oder Fährtickets hat er in den letzten drei Monaten rund 1300 Euro seines Ersparten ausgegeben. „Das hätte ich auch zuhause gebraucht“, sagt er, „doch skandinavische Festivals sind teurer als anderswo – ich musste viel arbeiten.“ Um sich das Ticket für das nächste Open Air zu verdienen, sammelt er am letzten Festivaltag immer Dosen und Flaschen. „Es ist ganz einfach“, sagt Anders, „je mehr Menschen, desto mehr Pfand.“ In Roskilde hat er in diesem Jahr an nur einem Tag 250 Euro kassiert. Eine Dose bringt dort eine Krone. Sieben Kronen sind ein Euro. Auf den großen Veranstaltungen bleibt er auch immer einen Tag länger. Am Abreisetag lassen die erschöpften Besucher viel Pfandgut zwischen den Zelten liegen, dann braucht er nur wenige Stunden, um sich auch noch das übernächste Festival zu finanzieren.
Oft, erzählt er, sei es allerdings nicht ganz einfach, nach mehreren Tagen des Rausches sich selbst zu disziplinieren und mit dem Sammeln zu beginnen. „Nach der ersten Stunde läuft es dann meist ganz gut, ich versuche, einen sportlichen Ehrgeiz zu entwickeln und an das nächste Festival zu denken – das hilft“. Doch auch die Konkurrenz unter den Pfandsammlern ist groß. „Es gibt eine gewisse Rivalität “, sagt er, „und es gibt auch einige, die es so ähnlich machen wie ich, die auf diese Weise durch Europa reisen – man trifft sich, man kennt sich, man grüßt sich.“ Nur einmal, vor drei Jahren in Ungarn, habe es eine Rangelei mit zwei anderen Sammlern gegeben, die ihn vertreiben wollten. „Die wollten auch meine Dosen“, sagt Anders. Doch er ließ sich nicht vertreiben. Anders ist kräftig.
Zuhause ist er anders, sagen seine Freunde. Da ist er eher zielgerichtet, fast schon strebsam und verbissen, wenn es um das Schreiben einer Hausarbeit oder das Bestehen einer Prüfung geht. Auch Essen aus Dosen wird man bei ihm vergebens suchen. „Drei Viertel des Jahres bin ich ordentlich und sehr ehrgeizig, drei Monate lasse ich mich treiben“, erzählt er, „es ist ein bisschen so, als ob ich zwei Leben hätte.“ Die Festivalzeit koste unglaublich viel Kraft, sagt Anders, aber sie gebe ihm für den Rest des Jahres Energie. „Ich brauche diesen Kontrast – sonst wäre das Leben zu langweilig.“
Nun hat er noch wenige Tage, bis das Semester wieder beginnt. Er braucht immer eine Woche, „um in die normale Welt zurückzukehren“, wie er es nennt. Ob er im nächsten Jahr wieder so ausgiebig unterwegs sein wird, weiß er noch nicht. „Ganz ohne wird es wohl nicht gehen“, sagt er, „vielleicht werden es aber auch nur vier oder fünf Festivals werden.“ Im Studium gehe es so langsam auf die Zielgerade, und er wolle ja nicht ewig studieren. Auf die Frage, was er denn eigentlich studiere, überlegt er kurz. Dann runzelt er die Stirn, schüttelt leicht den Kopf und sagt: „Frag’ mich das nächste Woche noch mal, daran will ich jetzt noch nicht denken.“