Sie lebt alleine in einer Holzkate am Strand und sammelt das, was die Ostsee ihr bringt. Für andere ist es nicht mehr als der Müll des Meeres. Für Biruta Kerve sind es Geschenke, die ihr der Wind und die Wellen machen – darunter 40 Flaschenpostbriefe aus halb Europa.
Der schmale Pfad führt durch einen Kiefernhain bis auf eine Düne, wo eine kleine Holzbank steht. Von hier hat sie einen guten Blick. Manchmal sitzt sie einfach nur da und schaut zu, wie die Ostsee ihre Farbe wechselt und mit schäumenden Zungen über den Strand leckt. Sie hört den Möwen zu, die so schrill und ausdauernd schreien, als ginge es um ihr Leben. Und dann tapst Biruta Kerve los, sie geht auf die Suche. Sie liest auf, was das Meer sich irgendwann geholt hat und nun zurückgibt. Sie sammelt, was die letzte Flut in den braunschwarzen Spülsaum geschleppt hat, was die Stürme in den Schilfgürtel geschmissen haben, was ganz vorne, wo Wasser und Land sich trennen, in der Brandung dümpelt.
Heute sind es zwei Dutzend Flaschenverschlüsse, eine Zahnbürste, ein Feuerzeug, fünf leere Flaschen Wodka, eine Packung Erdnüsse aus Deutschland, eine Dose Schnupftabak aus Schweden und acht Dosen Mais aus Russland, rostig und angefressen vom Salzwasser, aber laut Aufdruck noch haltbar. Die Ostsee muss eine Menge schlucken, doch irgendwann spuckt sie alles wieder zurück am Land.
Für andere ist es nicht mehr als der Müll des Meeres. Für Biruta sind es Geschenke, die ihr der Wind und die Wellen machen. Sie trägt die Fundstücke in ihren Garten hinter der Düne und fügt sie ein in ihr Gesamtkunstwerk. Schutzhelme, Rettungsringe, Frisbeescheiben. Puppen, Uhren, Verkehrshütchen und Schleppnetze – Dinge, die verloren gingen oder im Sturm gekappt werden mussten. Fahnen flattern an meterlangen Ästen im Wind. Bojen, mit denen Fischer ihre Leinen markieren, wachsen wie riesige Früchte an den Bäumen. Seltsame Wesen aus knorrigem Treibholz glotzen ihre Betrachter mit Flaschendeckelaugen an. Zahnbürsten sind zu Blumenmustern arrangiert. Einen Ölanzug, wie ihn Arbeiter auf Bohrinseln tragen, hat Biruta ausgestopft, mit einem Fußball als Kopf, und ihm eine Sonnenbrille aufgesetzt. Badelatschen sind in Reihe an den Hühnerstall genagelt. Die Hühner übersieht man in dieser bunten Welt aus Treibgut.
Von Nida sind es gerade mal zwei Kilometer bis zur Grenze. Es ist das südlichste Dorf an Lettlands Küste – vermutlich auch das einsamste. Während im Norden in Liepãja und im Süden im litauischen Palanga Menschen ihre Badetücher ausbreiten, Luftmatratzen aufpusten und dicht gedrängt am Strand liegen, hat es hier noch nie nach Sonnencreme gerochen, hat noch nie ein Verkäufer Eis am Strand verkauft. Der Eiserne Vorhang hing gleich hinter Birutas Holzkate – zwischen ihr und dem Meer. Der Strand war zu Sowjetzeiten gesperrt. Es patrouillierten Soldaten. Wachtürme standen alle hundert Meter. Den Menschen sollte die Flucht so schwer wie möglich gemacht werden. Fünfzig Jahre lang.
Biruta hat in dieser Zeit in drei verschiedenen Staaten gelebt, ohne auch nur das Haus verlassen zu haben. 1944 wurde sie im von Nazi-Deutschland besetzten Lettland geboren. Ein Jahr später eroberte die Sowjetunion die Küstenlinie zurück. Und 1991 wurde Lettland wieder unabhängig. «Der schönste Tag meines Lebens», sagt Biruta heute noch. Auch wenn damals vieles schwieriger wurde und viele Letten – als die Freiheit endlich Gewissheit war – Reißaus nahmen.
Die meisten Höfe sind seit Jahren verlassen. Man hat sie aufgegeben und lässt sie verfallen. Nur noch fünf der Häuser sind bewohnt. Die Menschen, die geblieben sind, sind alt, die meisten über 70. Mauern sind grün überwuchert. Elche, Wölfe und Biber leben wieder hier. Ganze Kolonien von Störchen suchen auf den Wiesen hinter den Dünen nach Fressbarem. Die Natur erobert das Land zurück.
Zu verkaufen steht auf vielen Schildern, die vor den Höfen im sandigen Boden stecken. Doch niemand kauft die Grundstücke, nur einige reiche Litauer oder Russen gönnen sich hier ein Sommerhaus. Denn die Zeit läuft anders in Nida, vielen viel zu langsam. «Vermutlich ist es zu ruhig hier», sagt Biruta, und ihre meerblauen Augen verraten den Rest. Es soll ihr recht sein, sie kommt gut alleine klar, sagt sie. Doch wer viel alleine ist, schweigt auch viel, wenn er nicht alleine ist. Auch bei Biruta ist das so. Sie sagt, sie braucht immer ein wenig, um sich an Gesellschaft zu gewöhnen. Dann aber, nach einiger Zeit, beginnt sie von sich aus etwas mehr zu erzählen, auch über sich und
ihre Geschichte.
Vor der Unabhängigkeit Lettlands war sie einfache Traktoristin in der regionalen Kolchose Padomju Latvija – zu Deutsch: sowjetisches Lettland –, in der die umliegenden Dörfer zusammengeschlossen waren. Sie erzählt, wie sie die Felder bestellte, wie die Ernte eingeholt wurde. Sie erzählt, wie man morgens in ein Glas pusten musste und der Brigadeführer seine Nase hineinsteckte. Wessen Atem nach Wodka roch, durfte den Tag nicht arbeiten, nicht Trecker oder Mähdrescher fahren. Mit dem Kollaps der Sowjetunion verschwanden dann auch die Staatsbetriebe, Biruta und ihr Mann Jurji verloren ihre Arbeit. Doch eine Alternative gab es im einsamen Nida nicht. Der Strand aber war nun wieder frei zugänglich. Und schon bald fingen sie an, das Strandgut, das sie auf ihren langen Spaziergängen fanden, zu sammeln und in ihren Garten zu schleppen.
«Wir hatten nicht viel, also mussten wir erfinderisch sein.» Aus allem, was sie fanden, wurde etwas gemacht. «Trash-Art» würde man die Skulpturen heute in der Kunstsprache wohl nennen. «Kunst?», wiederholt die kleine Frau mit den weißen Haaren erstaunt, «wohl eher nicht. Ich mache mir das Leben bunt – das ist alles.»
Im Jahr 2006 ist ihr Mann an Krebs gestorben. Er liegt auf dem kleinen Friedhof gegenüber begraben. Ihren Ehering trägt sie weiter am Finger. Sie sagt: «Der bleibt für immer.» Und auch sie wird in Nida bleiben. Sie wird weiter das sammeln, was die Ostsee ihr bringt. «Das führe ich fort», sagt sie, «für mich und Jurji.» Der Staat zahlt ihr eine kleine Rente, etwas mehr als 100 Lats im Monat – rund 150 Euro. Sie braucht ihren Gemüsegarten zum Überleben. Und auch sie hat auf ihrem Grundstück ein Schild aufgestellt. Mit den Verschlusskappen von Plastikflaschen hat sie einen Pfeil und drei Wörter daraufgenagelt: Taka uz Juru – da geht’s zum Meer. «Für die Touristen», sagt sie, «ich weiß ja, wo der Strand ist.»
An manchen Tagen stehen tatsächlich Fremde an ihrem Gartenzaun und blicken ungläubig auf das bunte Grundstück. Die meisten haben versehentlich die Abzweigung nach Nida genommen, sind die kilometerlange Schotterpiste gefahren und reiben sich nun verwundert die Augen. Man kann die Fragen in ihren Gesichtern lesen: Was um Himmels willen ist das? Was soll das? Wer wohnt denn hier? Und dann trauen sie sich doch, kommen näher und laufen staunend durch den Garten. Wie jetzt zwei Frauen und zwei Männer aus Riga. Sie sind die einzigen Besucher der letzten drei Tage. Sie kichern und fotografieren jedes Detail, jedes Stück Holz und sich gegenseitig. Biruta steht dabei und strahlt. Sie zeigt ihre Skulpturen, die drei Tütchen mit Bernstein und den ganzen Stolz ihrer Sammlung: Briefe, die ihr das Meer gebracht hat.
Fast 40 Botschaften in Flaschen, die an den Strand vor ihre Haustür gespült wurden. Abgeschickt in Schweden, Polen, Litauen, den Niederlanden und Deutschland. Oder von einer der Fähren in die See geschmissen. Gestrandet in Nida, Lettland. Das Meer als Postbote. Biruta hat alle Briefe sorgfältig in Klarsichthüllen gesteckt und in einer Mappe abgeheftet. Auf jedes Papier hat sie das Funddatum notiert. Post aus einer fremden Welt. Noch nie ist sie irgendwo im Urlaub außerhalb Lettlands gewesen. Noch nie hat sie einem der Absender eine Antwort geschrieben.
Manche Flaschen trieben Jahre in der Ostsee, andere nur ein paar Tage. Und jede Nachricht erzählt die Geschichte eines oder mehrerer Menschen. Von Agnes und Aurelija aus Litauen, die sich beide in einen Schweden namens Cobain verliebten, der sie per Anhalter mitgenommen hatte. Prompt verschickten sie einen Liebesbrief ins Meer. Von Nico, die als Köchin auf einem polnischen Frachtschiff arbeitet und sich nach fernen Reisen sehnt. Von Brigitte und Günther, die auf der MS Gloria von Kiel nach Litauen in den Urlaub unterwegs waren. Oder von Jan aus dem Dorf Holm in Schleswig-Holstein, der drei Fragen hat: 1. Wie findest du Deutschland? 2. Wie heißt du? 3. Bist du ein Junge oder ein Mädchen? Bitte schicke eine Flaschenpost mit deinen Antworten an meine Adresse.
Längst ist es wieder ruhig im Garten hinter der Düne. Keine Touristen mehr, die kichern. Keine Fotoapparate, die klicken. Was bleibt, sind die Einträge im Gästebuch. In eine der Bojen hat Biruta ein Loch gebohrt und Kasse darauf geschrieben. Nun schüttelt sie die Spenden der Besucher aus dem Plastikball und setzt sich vor ihr Haus auf eine Holzbank an einen Holztisch. Unter dem Tisch liegt ihr Hund und schläft. Er heißt Ekars, was so viel wie Haufen bedeutet. Hinter ihr an der Wand hängt ein Rettungsring mit dem Namen des Schiffes, von dem er geworfen oder verloren wurde. Die Frachtfähre MS Petersburg ist 1985 in Wismar vom Stapel gelaufen und kreuzt heute noch im Ostseeraum. Ob der leuchtend orangenfarbene Ring jemals ein Leben gerettet hat, wird nie jemand erfahren.
«Würde ich die Gegenstände nicht sammeln, würde es keiner tun, und der Strand wäre in nur wenigen Tagen total verdreckt», sagt Biruta. «Mein Strand wird sauber bleiben.» Ihre Goldzähne blitzen in der Abendsonne. Die aus halben Bojen zusammengebauten Windräder quietschen. Bunte Plastikflaschen, die an Sträuchern blühen, klappern. Nur der Wind, eine Frau und das Meer – ein stilles Leben in Farbe.
Dies ist ein Textauszug. Lesen Sie die ganze Geschichte in Flaschenpostgeschichten. Von Menschen, ihren Briefen und der Ostsee.
Einigen wird diese Flaschenpostgeschichte bekannt vorkommen. Sie steht etwas kürzer in Neues vom Nachbarn. Doch genau dort muss das neue Buch beginnen: In Lettland. In Birutas buntem Garten am Strand von Nida. Im Sommer 2008.