Hier fahren nur noch Lkws. Auf den Straßenschildern stehen nur noch Nummern. Terminals und Frachtschiffe, Container und Verladekräne. Kilometerweit. Alles sieht gleich aus. Und gerade als man denkt, dass im betonierten Containermeer des Antwerpener Hafens die Natur wohl etwas zu kurz gekommen, es an diesem Ort nicht mehr wirklich schön ist und es kaum schlimmer kommen kann, sind die beiden Kühltürme des Atomkraftwerkes in Sicht. Mächtige, weiße Dampfsäulen wachsen wie Geschwüre in den Himmel. Dort liegt Doel.
Ganz gemächlich schieben sich die Containerriesen auf der Schelde an dem kleinen Dorf vorbei in den drittgrößten Hafen Europas, der vielen noch immer nicht groß genug ist. Er soll erweitert werden. Und Doel steht im Weg. Das Dorf soll weg. Das ist längst beschlossen. Die Terminals sind schon bis auf wenige Meter herangewachsen. Die meisten Häuser sind bereits verlassen und verfallen. Die Eingänge sind mit Brettern vernagelt, die Scheiben eingeschmissen. In den Dächern klaffen Löcher. Und in einigen Fenstern stehen Uhren. Man hat sie auf kurz vor zwölf gestellt. Doch in Doel scheint es viel später zu sein.
Und trotz der umliegenden Industrietristesse kann das 400 Jahre alte Polderdorf ein interessantes Reiseziel sein. Schon oft wurde es als Filmkulisse genutzt. Touristen kommen täglich, um den morbiden Charme zu erleben. Eine autogroße Ratte ist auf eine rote Backsteinmauer gemalt. Ein anderes Haus hat Arme und ein Gesicht mit einem riesigen Maul. Es schreit. Aus den Augen fließen Tränen. Doel ist bunt – Künstler und Jugendliche haben sich hier mit Malereien und Graffitis ausgetobt. Heute erkennt man die bewohnten Häuser daran, dass entweder ein Auto vor der Tür oder ein Schild im Fenster steht: Bewoond. Heute sind noch dreißig Menschen da. Oft schon sollten auch sie umgesiedelt oder zwangsenteignet werden. Doch der Bedarf einer Hafenerweiterung ist umstritten.
Jetzt hält die Postbotin in ihrem roten Kastenwagen vor einem Haus und wirft Briefe und Werbung durch den Zeitungsschlitz. Sie hat hier schon die Post gebracht, als das Dorf noch über tausend Einwohner hatte. Doch dann, erzählt sie, wurden es immer weniger. Heute braucht sie nur noch ein paar Minuten für ihre Tour. Doel stirbt. Jedes Jahr ein bisschen mehr. Es ist ein langsamer, kein schöner Tod.
Wer Doel ins Deutsche übersetzt, wird sich wundern: Das Ziel. Und auch im Dorf gibt es noch so etwas wie einen Lichtblick: Auf dem Grasdeich, der das Dorf vor den Launen der Schelde schützt, steht eine Windmühle, darin ein kleines Restaurant. Es soll die Älteste in Belgien sein. Gerade ist eine Schulklasse angekommen. Entlang des Deiches gibt es einen Radweg. Kurz kehrt das Leben zurück. Die Kinder johlen und lachen. Alle tragen neongelbe Warnwesten. Im Hintergrund qualmt das AKW.
Am nächsten Morgen ist der Atommeiler verschwunden. Ein dichter Nebel ist von der Nordsee die Schelde hinaufgezogen und hat sich über Doel und den Deich gelegt. Die Windmühle steht nun alleine da. Es ist wie ein schöner Traum.