Die Wußlers leben dort, wo andere Urlaub machen. Die Ortenau zwischen Schwarzwald und Oberrhein zählt zu den schönsten Landschaften Baden-Württembergs. Versteckt in einem beschaulichen Seitental liegt der Bauernhof der Familie. Ein Stück heile Welt, in der es sich oft um eines dreht: den Selbstgebrannten.
Wer zu den Wußlers will, braucht Geduld. Von Ödsbach, einem badischen Dorf mit 1600 Menschen, führt eine enge Straße in vielen Kurven durch ein schmales Seitental, wie es typisch für den Nordschwarzwald ist. Obstbäume trotzen der Schwerkraft, stehen bedenklich schief an steilen Hängen. Nur vereinzelt gibt es ein paar Höfe. Dass der nächste Nachbar hunderte Meter entfernt wohnt, ist hier normal. Immer tiefer geht es hinein in das Ödsbachtal, und immer dann, wenn man glaubt, dass die Straße ein Ende hat, folgt die nächste Kurve, Kilometer für Kilometer. Dort, wo sich das Tal öffnet, breiter wird und die asphaltierte Straße aufhört, liegt der Bauernhof der Familie Wußler.
Kaum angekommen, sitzt man schon am großen Holztisch in der Küche. Beim Abendbrot lässt sich viel über die Wußlers erfahren. Clemens Wußler und Sohn Bernhard erzählen, wie sie am Vormittag mit der über 100 Jahre alten Kelter 200 Liter Apfelsaft gepresst haben. Lioba Wußler hat im Holzofen 30 Brote gebacken. Morgen früh soll gebuttert werden. Milch, Eier, Honig, Marmelade, Rahmkäse, Gemüse, Obst, Kräuter und Fleisch vom eigenen Vieh – fast 80 Prozent ihrer Lebensmittel stellen die Wußlers selber her. „Wir haben uns schon immer selbst versorgt“, sagt die 60-jährige Bäuerin. Ihr Mann sagt: „Keine Masse, sondern Qualität.“
Wenn der Fast-70-Jährige spricht, wird das Erzählte meist von seinen kräftigen Händen begleitet. Sie wirbeln durch die Luft, manchmal knallt sogar eine flache Hand auf den Tisch. Er kann selten ruhig sitzen, gedanklich ist er oft bei der Arbeit. Er sagt: „Arbeit gibt es genug.“ Und der Familienname beschreibt ihn gut: Er wuselt sich durchs Leben. Als ältestes von sechs Kindern wurde er auf dem Hof geboren. Schnell war klar, dass er den Betrieb übernehmen würde. Fast 64 Hektar Fläche, drei Viertel davon sind Mischwald. Sie könnten jeden Tag ins Holz gehen, er und sein Sohn. Bauholz und Weihnachtsbäume, Brennholz und Tannengrün. „Im Wald gibt es immer was zu tun“, sagt Clemens Wußler. Er trägt ein kariertes Hemd, einen grünen Filzhut und einen Vollbart, der mal pechschwarz gewesen und fast vollständig ergraut ist. Eigentlich werde er ja mit K geschrieben, sagt er, „mit C ist aber schöner“. Er ist selten verlegen um einen Spruch, der ihm hilft, durch den Alltag zu kommen. Und nun steht er auf, um zu zeigen, was er meint, wenn er von Qualität spricht: Er holt den Selbstgebrannten.
Das Ödsbachtal liegt in der Ortenau, einer Region zwischen Schwarzwald und Oberrhein, 30 Kilometer breit, 60 Kilometer lang – dort, wo Baden am schönsten ist, wie die Einheimischen sagen. Es ist eine Obstgegend. Allein in Oberkirch, der nächstgrößeren Stadt mit ihren 20.000 Einwohnern, gibt es 900 Hausbrennereien. Der Bischof von Straßburg hatte 1726 ein Gesetz erlassen, das den Bauern erlaubte, das überschüssige Obst zu Schnaps zu machen. 1816 kamen die ersten Wußlers ins Ödsbachtal, seither wird auf dem Fiegenhof gebrannt. Und schon als Kind war Clemens Wußler dabei, wenn Großvater und Vater Obst destillierten.
Heute wachsen auf den Streuobstwiesen Mirabellen, Äpfel, Zwetschgen, Birnen, Kirschen und verschiedene Beeren. Die Böden sind fruchtbar. Der Hof liegt knapp 500 Meter hoch, das Klima ist mild, fast mediterran. „Hier wächst alles“, sagt Clemens Wußler. An einem Hang steht mannshoher Topinambur, aus der Süßknolle brennt er einen 45-Prozentigen. Viel weniger sollte ein guter Edelbrand nicht haben. Mindestens sechs Wochen braucht die Maische, bis sie vergoren ist. In mehreren Brenngängen wird sie zu Alkohol, der zwei Jahre in Stahltanks reift. 300 Liter reinen Alkohol dürfen die Wußlers jedes Jahr produzieren, mit Wasser verdünnt werden rund 600 Liter Kirschwasser, Apfelschnäpsli oder Blutwurz daraus.
Im Kuhstall läuft das Radio. „Die Tiere sind dann ruhiger“, sagt Bernhard Wußler, „und ich bekomme mit, was in der Welt passiert“. Er sei eher der Einzelgänger, sagt der Anfang-30-Jährige, er könne gut alleine sein. Aber einsam würde er das Leben auf dem Hof nicht nennen. Einsamkeit sei ein zu großes Wort. Er sagt: „Hier ist mehr Trubel, als man glaubt.“ Wanderer und Radfahrer kommen vorbei. Fast täglich nehmen Leute den Weg auf sich, um Lebensmittel oder Flüssignahrung abzuholen. Der Hof ist wie eine Insel des einfachen Lebens in ländlicher Abgeschiedenheit. Und auf dieser Insel ist viel Platz für Besucher – Menschen, die sich nach Ruhe, nach einem Stück heiler Welt und etwas Romantik auf einem Bauernhof sehnen, wo Mobiltelefone keinen Empfang haben.
Seit über hundert Jahren kommen Feriengäste auf den Fiegenhof. Im Haus hängen vergrößerte Schwarzweißbilder aus dem Jahr 1936. Sie zeigen den Urgroßvater von Bernhard Wußler, wie er im Wald zersägte Holzstämme auf ein Pferdekarren lädt. Ein Feriengast, der erstmals als Vierjähriger hier Urlaub gemacht hatte, hatte die Aufnahmen gemacht – heute ist der Mann 93, verbringt noch immer jedes Jahr einige Tage im Ödsbachtal und genießt den Ausblick: Südwärts kann man über die bewaldeten Hügel bis zur Hornisgrinde gucken, dem fast 1200 Meter höchsten Bergrücken der Gegend. Nordwärts sieht man über die Rheinebene hinweg bis nach Straßburg, rund 30 Kilometer entfernt. In der Nacht ist die Grenze gut zu erkennen, dort wo die Straßenbeleuchtung gelb wird, beginnt Frankreich.
Andere Höfe der Gegend haben sich längst auf Obstanbau oder Viehwirtschaft spezialisiert. Die Wußlers machen von allem ein bisschen. „So sind wir weniger anfällig“, sagt Clemens Wußler, „wenn wir ein Jahr keine Äpfel oder Kirschen haben, tut uns das nicht weh.“ Er ist Landwirt, Waldbauer, Schnapsbrenner, Imker, Landschaftspfleger und Selbstversorger. „Langweilig wird mir hier oben nicht“, sagt er und lacht. Er lacht oft, die Krähenfüße an den Augen sind nicht zu übersehen. Doch auch die lebenslange Arbeit hat Spuren hinterlassen: Man muss etwas lauter reden mit Clemens Wußler. Viele Jahre hat er ohne Ohrenschutz mit der Kettensäge im Wald gearbeitet. Seit drei Jahren ist er auf beiden Ohren schwerhörig. Vor wenigen Monaten hat er ein künstliches Kniegelenk bekommen. Er humpelt, hat starke Schmerzen. An manchen Tagen quält er sich dennoch den Hang hinauf und rupft gebückt das Franzosenkraut aus dem steilen Kartoffelacker. Oder er reißt das für Kühe giftige Kreuzkraut aus den Bergwiesen, was von Hand gemacht werden muss, was keine Maschine übernehmen kann.
Die Vielfalt auf den Wiesen der Wußlers ist beinahe exotisch. „Schafgarbe, Johanniskraut, Bärwurz, Spitzwegerich, vier verschiedene Kleearten, unzählige Wildkräuter“, beginnt Clemens Wußler aufzuzählen, winkt dann aber ab – „es sind zu viele.“ Eine blühende Bergwiese ist die Basis und wirkt auf Kühe wie eine natürliche Apotheke. „Eine gesunde Natur schmeckt man in der Milch“, sagt Wußler Senior. Heuende Bergbauern, die ihre Wiesen in Handarbeit und mit stetem Schnitt bearbeiten, gibt es kaum noch in der Ortenau. Zu viel Aufwand, zu wenig Ertrag. „So ist das Leben in den Bergen“, sagt Clemens Wußler.
Der Sohn sagt über seinen Vater: „Er ist ein Original.“ Der Vater sagt über seinen Sohn: „Er ist ein Glücksfall.“ Vor einem Jahr hat Bernhard Wußler den Hof offiziell in die fünfte Generation übernommen. Die Eltern sind erleichtert, dass er sich so entschieden hat. Dabei ist für ihn schon länger klar gewesen, dass er die Familientradition weiterführen würde. Schon als Kind hatte er um sechs Uhr früh am Bett der Eltern gestanden und die Kühe melken wollen. Heute gibt es Arbeitstage, die 18 Stunden dauern, und Wochen, in denen er in kurzer Zeit fünf Kilo abnimmt, weil er vor lauter Arbeit kaum zum Essen kommt. Dennoch wolle er nichts anderes machen oder gar woanders leben, sagt er. Denn es gibt nicht mehr viele Orte in Deutschland, wo das Leben noch so klar umrissen ist, wo alles seine Zeit zu haben scheint. Die Wiese, die Kühe, der Wald, der Schnaps. Und gelegentlich gibt es sie noch, die Momente, in denen Bernhard Wußler kurz inne hält, über das eigene Tal blickt und denkt: „Mein Gott, ist das schön hier.“
Mehr über die Familie Wußler und ihren Hof.